56 Jahre Alfons Zitterbacke – ein Vergleich mit seinem Bruder Harry Potter
Von Matthias Krauß
Erfolgsbücher sind nicht allein für ihre Fangemeinde wichtig. Aufschlussreich und wertvoll sind sie für alle, die wach durchs Leben laufen. Erfolgsbücher geben einen enthüllenden Blick auf eine Welt frei, in der diese Bücher ihre Wirkung entfalten. Von solchen Werken kann übrigens keineswegs immer auf die Autoren geschlossen werden, aber sehr fundiert auf Sehnsüchte und Erwartungen im Publikum.
„Alfons Zitterbacke“ wie auch „Harry Potter“ sind Erfolgsbücher, wenn auch ganz unterschiedlicher Dimension. Während die Erfolgskarriere des Alfons auf die DDR beschränkt geblieben ist, hat Harry nach 1997 die ganze Welt erobert, zumindest ihren solventen Teil. Alfons erblickte als literarische Figur 1958 das Licht einer halbwegs gefestigten DDR-Kleinwelt, erdacht von Gerhard Holtz-Baumert. Harry entsprang der Feder der arbeitslosen Britin Joanne Kathleen Rowling, mithin in einem Staat, der ein paar Jahrzehnte zuvor noch die halbe Erde beherrscht hat. Vom Alfons erschienen drei relativ schmale Bücher, Harry brachte es auf sieben dicke. Harry ist als weltweites literarisches und Kommerzkonzept aufgegangen, und seine Autorin ist heute reicher als Queen Elisabeth. Während der Alfons auf diese Dinge überhaupt nicht angelegt war und schon heute in vielem der Kommentierung bedarf. (Was ist ein Landambulatorium? Was ist ein Kosmonaut?)
Ein Kollege, der als Kind von „Alfons Zitterbacke“ begeistert war, schenkt dieses Buch seinem heute 10-jährigen Sohn. Der und dessen Freunde sind sich im Urteil über Alfons restlos einig: „Der ist einfach nur blöd“. Was sie vom ihrem Idol Harry niemals sagen würden. Warum das so sein muss, lohnt die Antwortsuche und auch die auf die Frage, welcher Abstand zwischen der Kindheit dieses Mann und der heutigen seines Kindes auf diese Weise deutlich wird. Denn Alfons und Harry sind beide Kinder ihrer Zeit und deren Spiegelbilder. Beides sind Helden, sozusagen wie aus dem Bilderbuch. Beide sind fiktiv, annähernd gleich alt und ringen auf ihre Weise mit der Umwelt. Für beider Zeiten bezeichnend sind die Darstellung des Helden-Kindes, der Mitmenschen, der Art und Weise von Konflikten und des Umgangs mit ihnen.
Was die heutigen Kinder an einer Figur wie Alfons verstören, ja verärgern muss, hat einst zu seiner Popularität unter Kindern beigetragen und liegt auf der Hand: Er bekennt sich zu seinen Ungeschicklichkeiten, er verbirgt sie nicht einmal. Alfons kommt mit Unzulänglichkeiten daher. Er ist in diesem Sinne also ein Mensch. Er besitzt kein grundlegendes Misstrauen gegen die Welt, in der er lebt. Warum sollte er auch? Zu seinen Zeiten ließen Frauen vor der Kaufhalle noch die Kinderwagen stehen, und die einzige Gefahr für die Babys bestand darin, dass eine vorübergehende Fremde ihnen den Nuckel ins Mäulchen steckte, wenn sie vielleicht geschrien haben. In dieser Welt fühlten sich auch Jugendliche so sicher, dass sie mit Volljährigkeit rasch die eigene Wohnung ansteuerten. – Das endlose Verharren in der beschützenden Festung „Hotel Mama“ dagegen ist der Potter-Ära vorbehalten.
Alfons heißt Zitterbacke. Er ist entwaffnend freimütig und mitunter bedenkenlos. Er ist natürlich auch berechnend, liegt aber regelmäßig falsch. Ihm fehlt, was seinem Ruf im heutigen Kinderzimmer das Todesurteil unterzeichnet. Er ist nicht „cool“. Er ist sogar das Gegenteil von cool. Er ist ein Pechvogel, der heute „Looser“ genannt werden müsste und gibt das auch noch zu. In beinahe nichts reicht er an den strahlenden Harry Potter heran, an diese Art jungem Buddha. Der ist ein Prinz, ein minderjähriger Superman – geboren, um siegreich zu sein.
Eine bildungsbürgerliche Ablehnung des Potter-Stoffs, wie sie von vielen Literaturwissenschaftlern vorgenommen wird, wurzelt in elitärem Anspruch, und dieses Schicksal teilt Harry im Übrigen mit sehr vielen „Trivial-Erfolgen“. Literarisch interessant ist dennoch dies: Während die Dinge, die Alfons zustoßen, in ihrem Ausgangspunkt und der Konstellation immer wieder neu sind, während jede seiner lustigen oder nachdenklichen Geschichten einen Eigenwert verkörpert und eine eigene Botschaft trägt, sind diejenigen Harrys von überwältigender Schlichtheit. Auf abertausenden Seiten erlesen sich die Käufer das Immergleiche. Von der ersten Seite an ist eine machtvolle und unwandelbare Grundeinteilung vorgegeben: Gut ist und bleibt immer gut, böse dito. Hier stehen Harry und seine Freunde – dort der Widerling Draco Malfoy, der verschlagene Lehre Snape und die grauenhafte Urmacht Lord Voldemort. Auf Potters Spuren bestätigt sich die ursprüngliche Determination aller Figuren. Das ist der im Grund vollkommen öde Ausgangspunkt eines jeglichen Konflikts, oft genug simpel aufgelöst durch einen Zauberstab. Erstaunlich ist nicht, dass es so banal abläuft, sondern, dass Millionen Menschen davon ehrlich fasziniert sind. Mit Harry Potter hält die Gewissheit Einzug ins Kinderzimmer, dass es ein Weltzentrum des Guten sowie des Bösen gibt. Und auch die vielen Erwachsenen unter den Lesern lernen, dass bei der à priori gegebenen Einteilung in Rechtschaffende und Schurken nicht mehr gefragt werden muss, ob es vielleicht der Oberschurke war, der diese Einteilung vorgenommen hat.
Nun gut, es ist erforscht und bewiesen: Allein das Ewige interessiert das große Publikum und nicht die zufällige Ausnahme. Die Autorin von „Harry Potter“ setzte mit ungeahntem Erfolg auf die Archetypen-Theorie, wonach allein menschliche Grundtypen und immer wiederkehrende Grundkonstellationen wirklich Interesse beanspruchen können. Der Schüler Sigmund Freuds – Carl Gustav Jung – hat eine Wissenschaft daraus gemacht: Solche Archetypen sind der jugendliche Held, das göttliche Kind, die edle, jungfräuliche Schöne, die Hexe, der weise gute Alte und so weiter. So war die Potter-Verfilmung kein Problem, der Stoff erfüllt diese engen Vorgaben grandios. J. K. Rowling hat gleichzeitig ein Drehbuch geschrieben. Wichtig bei dieser kindlichen, im Grunde naiven Weltshow: Figuren, denen die Rolle des Guten zugesprochen wird, sind immer auch gut aussehend. Und richtig süß. Dem Hässlichen dagegen sieht man die Bosheit an. Zwar wird man bei Alfons diese Archetypen auch aufstöbern können, sie sind in seinem Falle allerdings nicht Selbstzweck.
„Harry Potter“ ist mit seinem überwältigenden Erfolg ernst zu nehmen, weniger literarisch, mehr als Kennzeichen von Zuständen, aus denen er hervorgegangen ist und in die er hineinwirkt. Denn worin offenbart sich die Angst vor der unerforschlichen, bedrohlichen Wirklichkeit, wenn nicht in der weltweiten Sehnsucht nach dem wohlgeordneten Märchen? Das Buch bebildert diese Bedrohung, und wenn seine Leser in der Wirklichkeit nicht siegen können, dann wenigstens mit Harry Potter. Er ist ja nur der absolute Höhepunkt eines immer stärker werdenden Stroms an Fantasy-Angeboten (Die unendliche Geschichte und die Sage „Herr der Ringe“ gehören ebenfalls dazu), welche in den vergangen Jahrzehnten weltweit das Bewusstsein beeinflussen. Harrys Welt ist eine groteske Scheinwelt, ein Geisterreich voller dunkler Mächte, die eher dem Unterbewussten oder Albträumen zuzuordnen wären. Die Waffen gegen diese Mächte sind eben so phantastisch. „Harry Potter“ führt in eine immer währende Walpurgisnacht, die von Goethe schon verdammt wurde als „schaurig, wunderlich, lachhaft und verrückt“, als Zusammenballung von allem Widergöttlichen, Widersinnlichen, Hässlichen und Gemeinen. Die Walpurgisnacht im „Faust“ ist wirklich deutsch und als solche vom Dichter dem Griechischen, Strengen, Maßvollem, Appollinischen gegenüberstellt. Wenn sich heute Millionen Menschen aber genau darin wiederfinden, dann müssen böse gegenwärtige Lebensumstände hier ihre literarische Entsprechung gefunden haben. Sie ist mit „Harry Potter“ nun hoffähig geworden, dieses nicht hoch genug zu bewertende Verdienst kommt der Romanserie zweifellos zu. Leser genießen den kitschig-gewissen Sieg des Guten, und die dabei mitschwingenden Allmachtsphantasien tun ein Übriges. Übel nehmen kann man das dem Publikum wenn überhaupt nur begrenzt. So muss es wohl sein in einer Zeit, in der in Großbritannien die Mehrzahl der Kinder aus Angst vor ihrer Umgebung es nicht mehr wagt, den Weg zur Schule zu Fuß anzutreten.
Potter ist ein Schauermärchen von beeindruckender Unwirklichkeit, in dem alle möglichen Geister der Vergangenheit beschworen werden. Alfons Zitterbacke ist dagegen eine realistische Erzählungsfolge, die ihre Poesie aus Gegenwart und auch Zukunft bezieht. Von seinem Bruder Harry ist Alfons weglos weit entfernt mit seiner unstillbaren Lust auf Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, die bunt und aufregend ist, die aber auskommt ohne dämonische Kräfte, wenn auch das Unheimliche nicht fehlt. Wo Geheimnisse jedoch am Ende eben keine Wunder sind und die Welt als erkennbar und darstellbar erscheint. Wo natürlich auch pausenlos Rätsel auftauchen, wo aber immer wieder das Erlebnis bestätigt wird, dass Gut und Böse eben nicht so einfach und klar geschieden sind. Dort gehen Schein und Sein oft skurrile Verbindungen ein. Wie dialektisch. Wie kompliziert. Wie ossihaft. Dabei verharrt Alfons keineswegs in der begrenzenden Heimwelt, auch er verhandelt mitunter Allergrößtes, auch er greift nach den Sternen. Im festen Willen, ins Weltall vorzustoßen, bleibt er aber gewissermaßen mit den Füßen auf der Erde. Er setzt nicht auf Zauber- sondern auf physikalische Formeln und will sich ins sowjetische Sternenstädtchen Baikanur durchschlagen, um von dort in den Orbit zu starten.
Alfons` weitgehende Vertrauensseligkeit in seine Umwelt wird von Harry und dessen Freunden nicht geteilt. Beide Jungen führen zwar die allgegenwärtige Lebensauseinandersetzung auf der Bühne einer Schulklasse auf. Bei Harry allerdings sind die Bandagen ungleich härter. Gespenstisch dabei sind weniger die umherwuselnden und -fleuchenden Geschöpfe, sondern die vorlauten und nervenden Kinder selbst. Abstoßend die den Erwachsenen abgelauschten Slapstick-Dialoge von Hermine, Ron und Über-Harry. Schrecklichste Erlebnisse nehmen sie feixend an. Permanent lösen sie unlösbare Aufgaben. Ihr Leben ist dem Kampf geweiht. Die Todesgefahr bleibt ständiger Begleiter dieser Kinder und ebenfalls ihre unmenschliche Lust, alles und vor allem sich selbst aufs Spiel zu setzen.
Alfons, der Dutzendjunge, wie auch seine Freunde und Gegner wollen ebenfalls in Auseinandersetzungen bestehen und messen ihre Kräfte. Um Leben und Tod geht es dabei natürlich nicht. Das Milieu dabei ist das des DDR-Alltags, die Frage nach einem „Oben“ oder „Unten“, nach einer sozialen Hierarchie stellt sich nicht. Alfons wird mit Achtungs- und Gleichheitsgrundsätzen vertraut gemacht, und er hat sie verinnerlicht. Er ist altmodischen Anstands- und Artigkeitsregeln unterworfen („Mach einen Diener“), aber es sind jene, die heutzutage wieder Konjunktur haben. Seine Kinderwelt kennt jede Menge Kuriositäten und Konflikte, aber keine soziale Abstufung. Die Harry-Geschichte dagegen spielt in „gutem“ Hause, was heute durchgängig als Synonym für „reiches Haus“ gilt. Hier findet der Kampf unter Kinderstars statt, unter minderjährigen Auserwählten. Die Prise Sozialkritik fehlt zweifellos nicht, wie auch die Quoten-Absicherung durch schwarze, arabische und asiatische Mitschüler. Auch Harry blickt auf eine schwere Kindheit zurück, und sein Freund Ron entstammt nicht gerade begüterten Verhältnissen. Ihre fiesen Gegner sind reiche Sprösslinge. Aber diese Prise bedeutet eigentlich gar nichts, außer, dass ohne sie noch niemals solche Geschichten Widerhall bei Massen gefunden haben. Diese Prise ist die Maske vor dem eigentlichen Gesicht: Harry verfolgt ein extrem elitäres Konzept, seine Majestät ist unantastbar, während Alfons umwerfend demokratisch auftritt.
Von dem – eingebildeten – Zwang, sechzig Eier essen zu müssen einmal abgesehen, sind die Mahlzeiten bei Alfons maßvoll. Die Tische vor den Zauberschülern in kathedralischen Hallen biegen sich dagegen unter ungeheuren Kuchen- und Tortenbergen. Welche Sehnsucht wird hier bedient? Wer in dieses Wunderland liefert – halb Schlaraffen- halb Höllenland – und wem es weggenommen wird, bleibt ausgeblendet, so wie in den realen Kaderschmieden der westlichen Elite heutzutage der genossene Überfluss kaum der Reflexion unterliegt. Die Kinder in der Zauberschule tragen durchweg Richter- oder Anwaltrobe, mithin die Tracht einer Kaste, welche im wirklichen Leben über ein Geheim- und Machtwissen verfügt, die alle übrigen Menschen unterwirft und damit schon für sich genommen jeden Freiheitsglauben in der spätbürgerlichen Welt ad absurdum führt. Den Zehn- oder Zwölfjährigen der Zauberschule Hogwarts ist ein Dünkel ins Gesicht geschrieben, der sie dermaleinst vollends beherrschen wird.
Alfons spricht die Sprache seiner Zeit und bleibt dabei das Kind, das er nun einmal ist. Die Kinder um Harry verbinden Teenager-Gewitzel mit altklugem Geschwätz und schwelgen gleichzeitig in mittelalterliche Rechts- und Ehrbegriffen. Hier findet er sich, der schon von Heinrich Heine verlachte Mix aus „modernem Lug und gotischem Wahn“.
Das durchgehaltene „Sie“ der Lehrer auch den kleinsten ihrer Zauberlehrlingen gegenüber verliert einen prüfenden, distanzierenden Gehalt niemals. Die Schüler sind praktisch nie gelassen oder unbeschwert, sie sind pausenlos in Rollen gedrängt, die eigentlich Kampfpositionen sind. Alfons erlebt in seiner Sphäre auch Enttäuschungen, sogar bittere, doch kann er immer noch seinen Mitmenschen den Rücken zudrehen, ohne dass ihm dieser Vertrauensbeweis auf irgendeine schreckliche Weise heimgezahlt wird. Seine Schule kennt auch Ruhepunkte, und das „Du“ in dieser Schule versteht sich von selbst.
Alfons hat zwar jede Menge Ärger, aber er lebt gleichzeitig in einer ihn schützenden Welt, und er weiß das auch. Erwachsene werden auf ihren Wert getestet, sind mal sympathisch, mal weniger, doch niemals Erzfeinde. Er liebt seine Eltern, sagt Mama und Papa. Harry dagegen hat keine Eltern mehr, Gefühle ihnen gegenüber können seine Mission demnach auch nicht stören. Das Erwachsenen-Bild ist ein klares: Wer die Macht besitzt, wird respektiert, so lange er sie besitzt. Die übrigen werden auf Nützlichkeit abgeklopft.
Alfons Zitterbacke kündet wie eine literarische Versteinerung von einer versunkenen Welt, die ziemlich kleinbürgerlich war, aber seltsam egalitäre Vorstellungen ausgebildet hat. Das Weltereignis Harry Potter ist literaturwissenschaftlich umstritten, als Zustandsbericht und Sittenbild hingegen, als Ausdruck für einen geistigen Weltzustand unbezahlbar.