Ein Steinbruch guter Ideen

Wo die Bundesrepublik sich die DDR zum Vorbild nahm

Von Matthias Krauß

Als die frühere Bundeswissenschaftsministerin Annette Schavan (CDU) einmal ihre neueste Errungenschaft pries, das nunmehr eingeführte Leistungsstipendium, hielt sie es für erwähnenswert, dass „erstmals“ an deutschen Hochschulen und Universitäten dieses Instrument zum Einsatz gelangen könnte.

Natürlich ist das einer dieser Sätze, mit denen man sich in Ostdeutschland blamiert. Frau Schavan hätte einfach mal mit ihrer Chefin Angela Merkel reden sollen; die Trägerin der Lessing-Medaille hätte ihr etwas von Leistungsstipendium zu DDR-Zeiten erzählen können. Dieses Leistungsstipendium aber ist mehr, ist das vorerst letzte Glied in einer beeindruckenden Serie von Beispielen, in denen die Bundesrepublik jene Auffassungen, Grundsätze und Formenelemente, Regeln und Gepflogenheiten übernahm, die in der DDR entwickelt bzw. in ihr praktiziert worden sind. Ungeachtet aller Repression, weltanschaulicher Einseitigkeit, offenkundiger Ablehnung der Demokratie in ihrer westlichen Variante und dem Verrammeln von Türen Richtung Westen galt also für die DDR auch dies: Sie hat jede Menge Türen aufgestoßen, durch welche die Bundesrepublik viel später auch geschlichen ist. Nicht nur auf das Leistungsstipendium trifft zu: Der „Unrechtsstaat“ dient bis heute als ein Steinbruch guter Ideen.

Nicht immer geschah das in einem so offensichtlichen Sinne wie bei der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als verbindliche deutsche Ostgrenze ohne Wenn und Aber. Aber es handelte sich um einen entscheidenden und sehr symbolträchtigen Punkt. Was 1950 einer der ersten diplomatischen Akte der DDR war, das war 1990 einer der letzten der alten Bundesrepublik: Eine identische staatspolitische Handlung mit vierzigjähriger Verzögerung.

Aber – zugegeben – was soll uns hier Polen? Die Annäherung an oder Übernahme von DDR-Positionen durch die Bundesrepublik erfolgte daneben vor allem auf Feldern, die tief in das praktische Leben von Menschen eingriffen. Ausdruck dafür war der kürzlich medial überaus breit gefeierte 100. Internationale Frauentag. Seltsam: 20 Jahre lang ist dieser Frauentag als Ostfolklore und zu belächelndes DDR-Relikt behandelt und abgetan worden. Warum eigentlich? Vielleicht, weil der östlich gelegene Staat im Punkt Frauenrechte der Bundesrepublik nun wirklich Epochen voraus gewesen ist? Mit dem erklärten Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ kam die DDR zur Welt. Bis heute müht sich Deutschland vergeblich, hier halbwegs gerechte Verhältnisse herzustellen. Die rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau in der Ehe galt DDR von Anfang an, in der Bundesrepublik war es bis 1976 Gesetz, dass ein Mann seiner Frau die Berufstätigkeit verbieten konnte. Ehe – das bedeutete 30 Jahre lang in der BRD Unterwerfung und Entrechtung der Frau – vor alle in finanzieller Hinsicht. Wenn sie ein Konto eröffnen wollte, musste das Einverständnis des Ehemanns dazu vorliegen. Die DDR hat noch unter Justizministerin Hilde Benjamin das Schuldprinzip bei der Ehescheidung durch das Zerrüttungsprinzip ersetzt – eine Generation später fand auch die Bundesrepublik sich dazu bereit, hier zu entrümpeln. Ministerin Benjamin erklärte es unumwunden: „Das Recht, das wir schaffen, muss das Recht der berufstätigen Frau sein“. Freilich ging die Bundesrepublik nicht so weit, den monatlich Ehefrauen gewährten und bezahlten DDR-Haushaltstag einzuführen.

Das Nazi-Ideal vom alleinverdienenden, allmächtigen männlichen Familienführer – in der frühen Bundesrepublik begeistert hochgehalten – verlor irgendwann auch in der Muffigkeit des Adenauer-Staates seinen Glanz. Die berufstätige Frau und ihre Ansprüche haben sich inzwischen – mit den bekannten Verzögerungen gegenüber dem sozialistischen deutschen Staat – auch in ihr durchgesetzt.

Und nicht nur das: Ein ganzer Blumenstrauß von politischen, geistigen und gesellschaftlichen Positionen hat die Bundesrepublik von der verachtet und gehassten DDR übernommen. Oder – um wütenden Protesten vorzubeugen, hat sie Positionen eingenommen, auf denen die DDR schon längst gestanden hat.

Die niederträchtige Benachteiligung unehelich geborener Kinder im Erbrecht wurde in der DDR abgeschafft – in der Bundesrepublik war das noch lange danach Bestandteil der „heiligsten Güter“. Prügel in der Schule war schon in der Sowjetischen Besatzungszone und zwar von Anfang an verboten – in der Bundesrepublik wurden diesbezüglich die letzten Reste 1980 beseitigt. Überhaupt – das Schulwesen! Ein Atavismus reinsten Wassers. Von Staatsbürgerkunde und Wehrerziehung abgesehen gibt es ja an den brandenburgischen Schulen nun alle DDR-Formenelemente wieder, die 1990 von Bildungsministerin Marianne Birthler mit großem Schwung auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen wurden: Leistungsforderung, Verhaltensbewertung, Erziehungsauftrag der Schule, Abschlussprüfungen und „sinnvolle Freizeitgestaltung“ am Nachmittag.

Dass man Kindern ein gesundes Schulessen anbietet, war in der DDR selbstverständlich, in Ostdeutschland ist das nach der Wende so geblieben, und im Westen bequemte man sich auch so nach und nach zu diesem Schritt. Ein flächendeckendes System von Kinderkrippen und –gärten (sog. Kitas) entsteht nun auch im Westteil der Bundesrepublik. 50 Jahre, nachdem die DDR das getan hat. Zur verabreichten DDR-Frühstückmilch reicht es freilich immer noch nicht. Zwischen ihr und den Kindern steht in der heutigen Schule der Süßigkeitenautomat.

Die heute alles beherrschende Abrechnung mit der DDR reduziert ihre Hochschulpolitik auf den Aspekt, sie habe – politisch motiviert – einem Teil der jungen Menschen den Zugang zur akademischen Bildung verwehrt. Das ist richtig. Zur ganzen Wahrheit gehört aber, dass die DDR konsequent jenen Schichten die Türen zur höheren Bildung öffnete, denen das bislang verwehrt geblieben war. Das musste auf Kosten der traditionell Privilegierten gehen, anders war es angesichts begrenzter Kapazitäten nicht möglich – aber was ist an diesem Vorgang so verwerflich? Die Bundesrepublik zog im Übrigen nach und entwickelte – wenn auch viele Jahre später – diesbezüglich auch ein Gewissen. Das Bafög sollte auch Jugendlichen aus traditionell „bildungsfernen“ oder jedenfalls ärmeren Elternhäusern das Studium ermöglichen. Allen Studierenden ein Stipendium zu gewähren, das sie von Elternhaus finanziell unabhängig macht und ihnen die Befriedigung der Grundbedürfnisse (eingeschlossen Kneipe, Bücher, Kino und Reise) ermöglichte, wie die DDR es nach 1970 tat, lag und liegt nach wie vor außerhalb der bundesdeutschen Vorstellungskraft.

Verweilen wir beim Blick auf die jüngste Vergangenheit auf die deutschen Faschisten und ihren willigen Vollstreckern, die nach den Krieg hordenweise, oder sagen wir besser staffelweise hohe und höchste Entscheidungspositionen des Bonner Staates stürmten. Die Bundesregierung verfuhr – mit Billigung eines Großteils der demokratischen Gesellschaft – nach der Regel „Den Opfern die Denkmäler, den Mördern die Pensionen“. Davon wird nun inzwischen auch Abstand genommen, ganz offiziell, und man kann aus vorsichtig formulierten Texten inzwischen sogar herauslesen, dass der Umgang mit Nazitätern und –taten in der BRD kein Ruhmesblatt der deutschen Geschichte ist, um nicht zu sagen eine Schande und dass er eine Verhöhnung der Naziopfer darstellte. Die Selbstbezichtigung des Bundesgerichtshofs von 1995, welche Merkmale einer Selbstanklage trägt, sei hier als Beispiel zitiert. In einem Urteil räumte das Gericht ein, dass nach 1949 „an weiteren Strafverfolgung von NS-Verbrechen kein Interesse“ (mehr bestand). Es habe in der Bundesrepublik Deutschland eine „Selbstamnestierung der Justiz für ihre eigenen Taten“ stattgefunden. Und das Bekenntnis schließt: „Einen wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung hatte nicht zuletzt die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes“.

„Spät kommt ihr. Aber ihr kommt“ (Schiller). Das ist Übernahme der DDR-Position in offenkundigster Form. Genau so hat sie es gesehen und gesagt. Was diesen Punkt betraf, hat sie sich niemals korrigieren müssen. Mit Filmen wie „Ehe im Schatten, „Sterne“, „Professor Mamlock“, „Nackt unter Wölfen“, „Die Bilder des Zeugen Schattmann“, „Jakob der Lügner“ hat sie von Anfang an den Völkermord an den Juden angeprangert und die Täter benannt. Die Hände Westdeutschlands sind diesbezüglich praktisch leer. Was in der Bundesrepublik dann Ende der 70er Jahre einsetzte und bis heute anhält, trug und trägt Nachholecharakter. Aber, siehe Schiller, besser spät als nie.

Gesundheitswesen. Mit Blick auf den heutigen Ausstattungsgrad der Kliniken und die Umgangsformen in ihnen wünscht sich niemand die DDR-Spitäler zurück. An die kostenlose Pille, an die damals großzügig gewährten Kuren für arbeitende Menschen muss man keinen Gedanken mehr verschwenden, das war alles sehr schön, kehrt aber nicht wieder. Man muss schon froh sein, wenn die in der DDR eingeführte jährliche Schuluntersuchung heute noch durchgeführt wird und sie wirklich alle Kinder erfasst. Sicher sollte sich da niemand sein. Geblieben sind als Vorbild auch die DDR-Polikliniken, ihr medizinwissenschaftlich enorm wichtiges Krebsregister und nun auch wieder die Gemeindeschwester als Träger des Gesundheitswesens auf dem Lande.

Bei der Darstellung der DDR-Vorbildrolle für die Bundesrepublik sollte man ob der Vielzahl der Belege keine Vollständigkeit anstreben. Die DDR hat ein hochentwickeltes und vorbildliches System der Altstofferfassung und –verwertung aufgebaut (Kombinat Sekundärrohstofferfassung – SERO) – ihr Pfandflaschensystem wird von vereinigten neuen Deutschland seit Mitte der 90er Jahre kopiert.

1958 schuf die DDR mit der „Messe der Meister von Morgen“ ihren landesweiten Technik-Wettbewerb. Schiere 7 Jahre später zog die Bundesrepublik mit „Jugend forscht“ nach. In der DDR gab es die erste deutsche Filmhochschule, die erste deutsche Hochschule für Körperkultur – und sogar den weltweit ersten wissenschaftlichen Lehrstuhl für Rockmusik leistete sich dieser Staat. Merkwürdig aber wahr: Seine diesbezüglichen Auflagen für die Rockgruppen („Wenn Beat sein muss, dann singt bitte deutsch“) wird heute in Deutschland vom größten Teil der auf diesem Feld sich Betätigenden freiwillig befolgt.

Schließen wir, indem wir noch einmal vergleichend auf das Frauenbild blicken. Eine sachliche Analyse der Arbeits- und Lebensbedingungen von DDR-Genossenschaftsbäuerinnen und der für die Bundesrepublik typischen „mithelfenden Ehefrauen“ in der Landwirtschaft müsste in buchstäblich jedem Punkt die Vorteilslage der DDR-Bürgerin ergeben. Die DDR hatte den ersten weiblichen deutschen TV-Kriminalpolizisten (Sigrid Göhler als Leutnant Vera Arndt im „Polizeiruf 110“). Und sie war es, die in den 80er Jahren Frauen den Weg in die Streitkräfte eröffnet hat. An ihrer Offiziershochschule wurden die weiblich beschickten Lehrgänge eingerichtet. Natürlich waren diese jungen Frauen die ersten, die nach der Wende einen Tritt bekamen und in hohem Bogen gefeuert wurden. Um – wieder einmal – Jahre später bekennen zu müssen: „Das Ganze – kehrt“.

Und so webt die DDR weiter am deutschen Kleid, hat der Bundesrepublik in vielem den Stempel aufgedrückt und den Spiegel vorgehalten, und sie wird das auch in Zukunft noch tun. All diese Beispiele machen Unrecht und Mangelerlebnisse natürlich nicht wett und sind auch keine Rechtfertigung für sie. Die DDR war ein Mix aus Erbärmlichkeit und Großartigkeit. Vorteile und Nachteile bildeten in ihr ein fest verschnürtes widerspruchsvolles Ganzes. Sie gingen auseinander hervor. Das trifft – so allgemein – übrigens auf die Bundesrepublik von heute auch zu. Was ist vor diesem Hintergrund wünschenswert? Nein, nicht, dass die DDR wiederkommt. Sondern dass der einseitige und blindwütige Hass auf sie einer Geschichtsbetrachtung weicht, welche diese Bezeichnung verdient.