Gespräch mit einem toten Dichter

Martin Walser, der Vietnamkrieg und die BRD/Ein fiktives Interview

Von Matthias Krauß

Es sagt sich so leicht dahin, aber in diesem Fall stimmt es. Mit Martin Walsers Tod ist eine Ära zu Ende gegangen. Er war die letzte der großen Stimmen, die im bundesdeutschen Polittheater einstmals das Wort erhoben und als Instanz wahrgenommen wurden. Er hat den blütenweißen Legenden der westdeutschen Polit-Etikette die Schmutzränder nachgereicht. Die selbstgefällige und belehrsüchtige deutsche Politik und Presse hatten in ihm ein Korrektiv, das es heute so nicht mehr gibt. Ohne ihn werden sie es noch einmal leichter haben beim Versuch, dem Volk auch das Unglaubliche, Widersinnige und Widerwärtige anzudrehen.

Das folgende Gespräch ist fiktiv. Aber alle Äußerungen Martin Walsers sind originär, sind Sätze, die er aufgeschrieben hatte. Ich verwende dabei Zitate aus seinem Buch „Heimatkunde“, in dem er sich u.a. mit der Verstrickung der Deutschen Bundesrepublik in den Vietnamkrieg befasst hatte.

„Wir sind ein Stern in der amerikanischen Flagge“

Herr Walser, die blütenreine Demokratie und die finstere Diktatur stehen spätestens seit 1990 in Reinkultur und Reinform einander gegenüber. Und eine gut bezahlte deutsche Aufarbeitungsindustrie wacht darüber, dass in dieser aufgeräumten Schublade nichts durcheinandergerät.

Martin Walser: Ich möchte es mit Goethe sagen: Willst du dir ein hübsch Leben zimmern, musst du dich ums Vergangne nicht kümmern. Eines jeden von uns bemächtigt sich das Gefühl vollkommener Unschuld, wenn er etwa von Auschwitz hört. Wenn aber Volk und Staat überhaupt sinnvolle Begriffe sind für ein Politisches, für ein Kollektiv also, das in der Geschichte auftritt und in dessen Namen Recht gesprochen und Recht gebrochen wird, dann ist alles, was geschieht, durch dieses Kollektiv bedingt, dann ist in diesem Kollektiv die Ursache für alles zu suchen. Dann ist keine Tat mehr bloß subjektiv. Dann ist Auschwitz eine großdeutsche Sache. Dann gehört jeder zu irgendeinem Teil zu den Ursache von Auschwitz.

Nun wurden wir ja 1945 vom Faschismus befreit, aber die weltweiten Metzeleien endeten nicht. Der eine Teil, der demokratische, hat sich zu einem Deutschland entwickelt, das die Amerikaner in ihrem Vietnamkrieg politisch und sachlich unterstützt hat.

Martin Walser: Die Amerikaner sind unsere engsten politischen Freude. Sie führen diesen Krieg mit einer anachronistischen Brutalität und auch in unserem Namen. McNamara ist offenbar durch keine menschliche Sprache erreichbar.

Fällt Ihnen eine faschistische Diktatur in Asien, Afrika oder Südamerika ein, die nicht die Unterstützung des freien und demokratischen Westens hatte?

Martin Walser: „Wir sind immer dabei, wenn üblen, längst überfälligen Diktatoren die Frist verlängert wird. Der Westen verfolgt die Vorstellung, dass alles von einem einzigen, bösen Riesenhirn gelenkt wird. Aber Peru, Uganda oder Vietnam hängen eben nicht zusammen. Das ist doch immer Bürgerkriege gegen diejenigen, die mit Hilfe Amerikas grauenhafte soziale Zustände so grauenhaft erhalten wollen, einfach, weil sie ihr Geschäft damit machen. Die Amerikaner sind Gefangene ihrer antikommunistischen Tradition.

War Vietnam der Sündenfall der Demokratie? Oder begann das nicht schon früher?

Martin Walser: Martin Luther King hat darauf hingewiesen: „Neun Jahre lang halfen wir den Franzosen bei ihrem verhängnisvollen Versuch, Vietnam wieder zur Kolonie zu machen.“

Zehntausende deutsche Fremdenlegionäre waren mit von der Partie. Um welchen Preis?

Martin Walser: Dass wir eine der übelsten modernen Diktaturen unterstützten.

Beziehen Sie das auch auf die Bundesrepublik?

Martin Walser: Es gibt diese ekelerregende Stumpfsinnigkeit unserer Kriegshilfswilligen. Bundespräsident Heinrich Lübke rief den Amerikanern 1967 begeistert zu: „Möge auch der gegenwärtige Kampf, den Ihr Land als Vorkämpferin der Freiheit gegen die Mächte der Finsternis führt, von Erfolg gekrönt sein.“ Er sprach von einem „großen Friedenswerk zum Nutzen aller Völker der Welt.“ Aber auch Erhard hat den Krieg begrüßt, Erler, Jaksch, Guttenberg, Schröder, Leber….

Geben die Kirchen wenigstens ein positives Bild ab?

Martin Walser: Kardinal Spillmann in der Weihnachtspredigt 1966, die er in Saigon vorgetragen hat: „Diejenigen, die gegen uns kämpfen, haben nicht die geringste Achtung vor dem Menschenleben, während für uns Amerikaner das Leben der Menschen das höchste Gut ist.“

Bei einer halben Million zerfetzter Vietnamesenkinder eine besonnene Einschätzung. Lassen sich denn die vorgeblichen demokratischen und humanistischen Ideale der Bundesrepublik mit dieser politischen Praxis, mit ihrer Unterstützung des Vietnamkriegs, vereinbaren?

Martin Walser: Mit Schmerz und Zögern und Widerwillen, aber unaufhaltsam lässt sich diese Vernunft auf ein Verbrechen nach dem anderen ein. Es ist der herrschenden Meinung gelungen, ihre Haltung als Haltung der Vernunft zu verkaufen.

Wie aber ist dieser Widerspruch möglich?

Martin Walser: Vielleicht, weil wir durch und durch ein Staat der USA sind. Wir sind ein Stern in der amerikanischen Flagge. Was in Vietnam geschieht, ist Ausdruck der inneren und innersten Verfassung der USA, der BRD, der freien Welt.

Nehmen Sie in dieser Frage einen Unterschied zwischen CDU und SPD wahr?

Martin Walser: Beide haben Washington verschämt zugestimmt. Regierung und Opposition sind da einträchtig – wie immer in Schicksalsfragen. Die SPD demonstriert ihre Vorweg-Anpassung.

Lässt wenigstens die vierte Gewalt in der demokratischen Bundesrepublik ihre stolzen Fahnen wehn? Ist zumindest in den Medien Widerstand zu beobachten?

Martin Walser: In der Bevölkerung wächst die Ablehnung. Das findet nicht den geringsten politischen Ausdruck. Dieser Krieg hat bei uns eine freundliche Presse. Die großbürgerlichen Zeitungen haben den Krieg von Anfang an so dargestellt, wie das Pentagon es wünschte. Die deutschen Journalisten interpretieren diesen Krieg nach den Regeln, nach denen sich die USA ein Recht gebastelt haben für ihre Aggression. Sie beten nach, was vom Pentagon geliefert wird. Es ist doch so, dass wir, wahrscheinlich aus falsch verstandener Bündnistreue, unvollkommen und falsch informiert werden.

Es existiert doch aber das Demonstrationsrecht in der BRD, und davon wird auch Gebrauch gemacht.

Martin Walser: Die Regierenden haben es nicht nötig, von unserem Protest Notiz zu nehmen, weil ihre Wähler keine Wahl haben.

Was soll der Einzelne jetzt mit alldem anfangen?

Martin Walser: „Wenn ein Demokrat unter den angebotenen Kandidaten keinen mehr findet, der seine Interessen vertritt, dann sollte er nicht mehr wählen.

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