Wir Ostdeutschen haben die Erdgastrasse (mit)gebaut
Nach sechs Sanktionspaketen und der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine hat Russlands Präsident Putin die Gaslieferungen an Deutschland gedrosselt und damit „zurückgeschlagen“, wie SPD-Chef Lars Klingbeil es formulierte. Es ist eingetreten, was in den schlimmsten Phasen des Kalten Krieges nicht stattfand. Russland hat mithin das getan, was Deutschland schon seit Jahren tut: Die Frage der Gaslieferungen als politische Waffe betrachten und gegebenenfalls auch nutzen. Ostdeutschland hat dazu noch sein eigenes Verhältnis, denn es waren DDR-Arbeiter, die die Erdgastrasse (mit-)gebaut hatten. Sie hatten auf diese Weise dafür gesorgt, dass es in ost- und westdeutschen Wohnungen warm wurde.
Foto: Schmuckkarte des Zentralen Jugendobjektes der Freien Deutschen Jugend „Erdgastrasse“
„Ich habe in das Auge des Bären gesehen.“
Bismarck nach seinem Aufenthalt in Russland
Ja, das hat es wirklich gegeben. Etwa ein Dutzend junge Männer in verschossenem schlamm- und ölverschmiertem Arbeitsdrillich sitzt an einem der langen Kantinentische und frühstückt nach 14-stündiger Nachtschicht in der großen Speisesaal-Baracke. Es ist morgendunkel, und die Männer schweigen auf die Wachstuchdecke gestützt, die über die ramponierten Sprelacart-Tische gebreitet ist. Es herrscht auch so genug Lärm in der sonst leeren Halle. An der Stirnseite der Baracke, auf einer Art Bühne, wiegt sich ein Duo des Berliner Friedrichstadtpalastes in den Hüften und trällert: „Was macht das schöne Grün, wenn die Blüten erblühn…“. Die beiden Künstler mittleren Alters – er im Frack, sie in bunten Rüschen – singen früh morgens kurz nach sieben ein albernes Couplet nach dem anderen. Dass einige im Publikum ihnen den Rücken zuwenden, scheint sie nicht zu stören. Sie singen routiniert, es ist ihnen offenbar nicht zu blöd, und wir haben sie auch nicht gefragt.
Denn wir sind zu müde dafür. Die Nachtschicht am UB-1, am Universalbagger 1, der Schaufel nämlich, sitzt in den Knochen. Nach dem Frühstück wird noch ein Bier getrunken, dann gehen die studentischen Hilfskräfte der Trassenbauer in ihr Barackenbett. Der Bus zur nächsten Schicht fährt um 17 Uhr wieder los. Der junge Tag weiß nicht, ob er hier über Europa oder vielleicht doch schon über Asien heraufzieht. Wir stehen auf der Landgrenze der Kontinente. Es ist einer der eintönigen Morgen an der Baustelle der Erdgastrasse im Ural, wir frühstücken im Zeckencamp II, das liegt zwei Kilometer von Bereoswka und etwa eine dreiviertel Autostunde von Kungur entfernt. Kungur, das klingt wie Gulag. Von hier aus gesehen sind Perm oder gar Moskau fernwestliche Metropolen. Hier sind wir am Zentralen Jugendobjekt „Erdgastrasse“ der Freien Deutschen Jugend. Denn im Sommer dürfen auch ein paar Studenten hierher, an den DDR-Bauabschnitt, um zu arbeiten. Sechs Wochen in der vordersibirischen Schlammromantik.
Auch jugoslawische Kinderfilme
Draußen vor der Barackentür wachen Hunde, die sich über die komische Musik nicht weiter wundern. Das hören sie oft. Die Trassenbauer sind aus der DDR, und sie haben ein Recht auf kulturelle Betreuung aus der Heimat. Dieses Recht beschränkt sich nicht nur auf die Tagschicht der Trassenbauer, auch die Nachtschicht wird kulturell erfaßt. Und deshalb lassen die Künstler in aller Frühe die Blüten erblühen, auch für eine nicht nennenswerte Zahl übernächtigter Gäste. Schließlich haben sie einen Vertrag. Sie sind hier nicht die ersten und werden auch nicht die letzten sein. Mal ist es irgendeine Rockgruppe, die eine Tournee von Stützpunkt zu Stützpunkt treibt. Beppo Küster hat sich angesagt. Und eindrucksvoll sind selbst jugoslawische Kinderfilme, wenn sie den Dauerblick auf die aufgewühlte russische Erde mal unterbrechen. Das Bildungs- und Erziehungsideal der fernen kleinen Heimat ist die „vielseitig entwickelte sozialistische Persönlichkeit“, manchmal sogar die „allseitig entwickelte Persönlichkeit“, dem wird selbstverständlich auch im Ural Tribut gezollt. Die Trassenbauer lassen das über sich ergehen, sie trinken so oder so ihr Bier. Die Hunde haben ebenfalls Besseres zu tun, sie müssen Artgenossen aus dem feindlichen Umland von der fetttriefenden deutsche Küche wegbeißen. Am Tag unserer Ankunft haben sie uns beschnüffelt und gleich festgestellt, daß wir zu ihnen gehören. Sie blieben ruhig. Kämen statt unser Russen, würden sie nicht ruhig bleiben. Wenn Kinder vorbeikommen, müssen die Köter festgehalten werden.
„Die Hunde können die Leute von hier nicht leiden, von denen werden sie schlecht behandelt“, erklären die alten Hasen, die hier schon seit Monaten oder Jahren leben, uns, den Neulingen von den Leipziger Universität, von der Handelshochschule oder von der Fachschule für Gastronomie. Ob die Hunde gegen die Russen scharf gemacht wurden, läßt sich nicht feststellen. Von den Trassenbauern werden die Einheimischen jedenfalls „Gumster“ genannt. Viele, vor allem ältere, Trassenbauer halten sich süße Welpen von den Hirtenhunden hier, süß wie der gängige Wermut aus der Kantine. Der heißt Chio Chiosan. Und die meisten Hundchen heißen klangvoll Chio. Neben der Betonmischanlage haben die Arbeiter einen Schweinekoben eingerichtet, für zwei riesige Exemplare. Denen sieht man an, was die Hunde hier zu verteidigen haben: Die werden so gut und so üppig gefüttert, daß die Außenhaut mit dem Wachsen des Volumens nicht mehr mithält und sie einfach am mehrere Stellen fingerlang reißt. Fliegen sitzen in den Wunden und legte ihre Eier ab.
Beim Straßenbaubetrieb Rodewisch
Ich bin jetzt, im Sommer 1986, also an der Erdgastrasse, einem energiepolitischen Großprojekt des RGW, und zwar schon das zweite Mal. Vor zwei Jahren, es war Ende des ersten Studienjahres, schaffte ich den Sprung schon einmal, zusammen mit der 20köpfigen Leipziger Studentenbrigade landete ich in Bar, einer kleinen Stadt in der Ukraine, in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik, wie es damals hieß. Dort waren wir Leipziger Studenten im Wesentlichen damit befasst, ein kleines Dorf an das Straßennetz anzuschließen. Wir wurden dem Kreis-Straßenbaubetrieb Rodewisch (Vogtland) zugeteilt, das war wirklich ein Witz: Die Schlaglöcher in den heimatlichen Straßen werden immer größer und die letzten Reste der vogtländischen Straßenbaukapazität tummelten sich Mitte der 80-er Jahre in der Ukraine.
Jugendobjekt Erdgastrasse – das ist eine in Teilen irreführende Bezeichnung. Die Trasse selbst ist nur noch ein Teil der Projekts. Für die Energielieferungen aus der Sowjetunion zahlt die DDR, indem sie Wohnblöcke baut, Schulen, „gesellschaftliche Zentren“ und eben auch Straßen. „Alles mal 3,2“, heißt ein geflügeltes Wort bei den Bauarbeitern, womit sie auf den jahrzehntelangen Umtauschkurs Rubel zu DDR-Mark anspielen.
Blaue Fahnen und Lappen
In den 80-er Jahren sind die Wenigsten der blauen FDJ-Fahnen zuliebe hier oder wegen des guten Essens, oder der spröden flachen Berge des Urals, in die wir unsere Schlammschneisen schlagen. Romantik und Fernweh – ja für die Studenten ist das noch wichtig, die hier bei der morgendlichen Fahrt zur Arbeit aus dem Fenster sehen und auf die kleine, weiße Kirche am Waldrand in der Ferne aufmerksam werden. Sie aber werden sechs Wochen später in den kleinen Passbus steigen, bis nach Kungur fahren, dort die Bahn entern, zwei Tage mit der sowjetischen Staatsbahn nach Moskau fahren, um nach Schönefeld zurückzufliegen. Als ich am letzten Tag ein paar Stunden frei habe, laufe ich über die Wiesen auf den weißen Kirchenbau zu, den ich wochenlang immer vom Bus aus gesehen habe. Diese „Kirche“ ist eine Reparaturwerkstatt für Traktoren und anderes Gerät.
Damit plagen sich die wirklichen Trassenbauer nicht. Sechs Wochen sind nicht drei Jahre. Mit Gesängen wie „Bau auf, bau auf“ ist im Spätherbst der DDR nicht mehr viel zu mobilisieren, die pro forma noch zuständigen FDJ-Stellen für das „Zentrale Jugendobjekt“ locken mit blauen Lappen, mit viel Geld, in die Ferne des Ostens. An der Trasse werden zwischen 2500 und 4000 DDR-Mark monatlich verdient, das ist ein enormer Anreiz. Hinzu kommen drei Rubel – etwa 10 Mark – für die täglichen Bedürfnisse – das begehrte Radeberger Bier oder den begehrten Rosenthaler Kadarka, den Lieblingsrotwein der DDR. Das alles ist wichtig, am wichtigsten aber ist doch das Genex-Konto. Jedem Trassenbauer werden für jeden Arbeitstag drei sogenannte Genex-Rubel gutgeschrieben. Dafür bekommt man zwar keine Westwaren – die sind den FDJ-Brigaden in Angola, Syrien und anderen „westlichen“ Staaten vorbehalten – aber alles, was die DDR selbst produziert, wenn auch nicht für HO oder Konsum, all das ist auf diese Weise zu erlangen. Die Trassen-Erbauer wie sie in besonders weihevollen Momenten genannt werden, warten nicht 10 Jahren auf einen Trabbi oder 16 Jahre auf einen Wartburg. Sie kaufen die Autos, wenn sie das Geld zusammen haben, und sie teilen ihre Zeit im Osten danach ein. Ein Trabbi-Zyklus dauert 8 Monate an der Trasse, ein Wartburg-Zyklus 2 Jahre, rechnet mir „Otto“ vor. Otto sieht aus wie Waalkes, er verwaltet das Materiallager im Stützpunkt Nowi 2 und ihn stört nicht, dass die FDJ-Fahne vom Wellblechdach weht. Er betreibt die Kaffeeküche, und zu ihm stiehlt sich, wer mal heimlich pausieren will.
Gut bezahlter Stumpfsinn
„Ich habe mir die Trasse auch anders vorgestellt“, sagt Udo. Seine Arbeitsmütze hat er mit Dutzenden sowjetischer Pionierabzeichen, den Snatschkis, gespickt. Das große Werk versinkt im Schlamm, das ist wörtlich zu nehmen. Vor dem Verdichter Nowi II senkte sich die „Gitarre“. Die Gitarre, das ist der letzte Abschnitt von 150 Metern Länge, auf dem parallel sechs Gasrohre von mehr als einem Meter Durchmesser auf die Anschlußstutzen der Verdichterstation zulaufen. Weil die Gitarre unsachgemäß grundiert wurde, senkt sich alles, droht nun, die Anschlüsse zu zerstören. „Die Russen sind schuld“, behauptet Udo, aber egal, ob das auch stimmt, es ist unsere Stunde, die Stunde der studentischen Hilfsarbeiter. Denn wir haben die Gitarre wieder völlig auszugraben, freizulegen, Kies und Beton unter die Rohre zu stopfen und das ganze wieder zu verfüllen. Es gibt Zuschläge, Überstunden und die besser bezahlte Möglichkeit, nachts zu arbeiten. Und dennoch muss es billiger sein, als würde man die Rohre mit schwerer Technik heraus reißen und neu verlegen. So schaufeln wir den Sand vom dritten Zwischenraum in den zweiten, vom zweiten in den ersten und dann neben die Baustelle. Wochenlang. Es ist Stumpfsinn, aber es ist gut bezahlter Stumpfsinn.
Um das Geldthema abzuschließen: Ich kam aus der Ukraine mit 3800 Mark wieder, nach dem Ural gabs sogar 4500 Mark. Die Gegenleistung: 37 Tage, 36 Schichten, meistens nachts, keine unter 12 Stunden.
Eigenartige Vertragspartner
Die Plätze sind also begehrt, wiederum ist der Preis eine ziemliche Schinderei in der Urlaubszeit. Die Passbilder müssen uns unter allen Umständen mit Jackett und Krawatte zeigen, sonst akzeptieren sie die sowjetischen Zollbehörden nicht, wird uns bei der Vorbereitung eingeschärft. Legere Bilder würden sie als Missachtung interpretieren. Die Russen sind eigenartige Geschäftspartner für die DDR-Betriebe, nicht gute, nicht schlechte, eigenartige. Es ist in Staatsverträgen ausgemacht, daß alles zum Bauen Nötige aus der DDR stammt – es werden zügeweise Betonplatten um die halbe Welt gefahren und manchmal verschwindet auch so ein ganzer Zug in den russischen Weiten auf nimmer Wiedersehen. Für dieses gigantische Trassenprojekt liefert alles bis auf den letzten Nagel die DDR – alles außer Kies, Zement und Ziegel, die liefern die Russen. Die Qualität der Ziegel ist so schlecht, dass sie nicht einfach abgekippt werden können, sie würden dabei zerbrechen. Wir Studenten verbringen ganze Wochen beim sogenannten Steinetreiben, d.h. wir haben uns die Steine zugeworfen und behutsam aufgestapelt, damit nicht noch mehr verloren gehen. Die Arbeiter nehmen kein Blatt vor den Mund, sie fluchen. „Die Russen sind schuld“, sagt Udo immer wieder. Sie liefern manchmal ihre Baustoffe zum letzten möglichen Termin. Denn wenn die DDR-Deutschen nicht pünktlich Teilabschnitte übergeben, kassieren die „Freunde“ Vertragsstrafen. Wir sind daher zu Feuerwehraktionen verdammt und stehen nachts auf schlecht beleuchteten Güterzügen, um im Wettlauf mit der Uhr den Kies dort runterzuschaufeln. Auf der anderen Seite kommt es aber auch vor, daß ein sowjetischer Geschäftspartner nach einer feuchtfröhlichen Produktionsberatung mit zehn Lastkraftwagen und hundert Leuten uns an einer anderen Stelle wie verrückt aushilft und dafür weder Geld noch sonst irgendwas will. Die Medaille hat immer diese zwei Seiten. So sieht es nun mal aus, wenn wodkagetränkte Freundschaft schnödes ökonomisches Denken besiegt.
Noch Wehrmachtsautos auf den Straßen
In der Sowjetunion ist auch in den 80er Jahren gesetzlich vorgeschrieben, wie weit Deutsche im Lande fliegen dürfen, das gilt auch für Deutsche aus dem brüderlichen Teil. Der Hinflug endet in Moskau, wir beziehen im Kasaner Bahnhof unsere Abteile in der sowjetischen Staatsbahn und fahren knapp zwei Tage lang über Gorki, Perm nach den Zielbahnhof Kungur. Zwei Jahre zuvor, 1984, landen wir in Lemberg, in Lwow, warten dort einen halben Tag auf die Busse und fahren acht Stunden durch die hügelige ukrainische „Kornkammer Europas“ in die Kreisstadt Bar. Die liegt unweit von Winiza, wo 1941 etliche Divisionen der Roten Armee zur Wehrmacht übergingen – besser, kapitulierten und sich in Gefangenschaft begaben. Das wurde der Gegend staatlicherseits nie verziehen, munkelt man bei den deutschen Bauleuten. Privatautos seien hier beispielsweise jahrzehntelang nicht zugelassen gewesen. Beim Rückzug 1943/44 wurden dann größere motorisierte Verbände der deutschen Wehrmacht in Bar eingeschlossen, die Soldaten ließen ihre Maschinen im Stich und wollten in einem „wandernden Kessel“ entkommen. Angeblich hat damals jeder Einwohner der Ackerbürgerstadt und jedes Kolchosbäuerlein seinen Wehrmachts-Jeep in die Scheune gezogen. Einige Fahrzeuge, denen wir hier auf der Straße begegnen, scheinen das zu bestätigen.
In der Ukraine haben wir zunächst einen Straßengraben auf exakte Maße zu bringen und dabei Betongitter zu versenken, die Straße soll bei Regen nicht „absaufen“. Ich bin für die Bordsteinproduktion zuständig, baue Holzformen nach Bestellung, in die der Mischer dann den Beton gießt. Gelegentlich kommt eine Bauersfrau vorbei, und verteilt Äpfel. Sie sei aus Moldawien, erzählt sie uns und sei zufrieden mit Äpfeln und Honig. Wenn Männer vorbeikommen, dann wanken sie oft vorbei, im schmutzigen Jackett steckt der selbstgebrannte Schnaps, der Samogon. Einer bietet mir mal zwei Flaschen für meine Schaufel, aber es ist wohl nicht erst gemeint.
Wein und Sekt und weiter nichts
Vor dem Schnaps werden wir gewarnt wie vor Geschlechtskrankheiten und Zeckenbissen, düstere Bilder von erblindeten Trassenbauern zeichnete der Einweiser in der FDJ-Kreisleitung Leipzig. Die Arbeiter sehen das anders. Die Qualität des Selbstgebrannten sei wirklich unterschiedlich, aber wirklich schlechte Erfahrungen habe keiner gemacht, behaupten sie. Die „Gumster“ sind auf die Eigendestillation angewiesen, wenn sie trinken wollen. Es ist 1984, Staatspräsident Gorbatschow hat öffentlich erklärt, dass der Alkohol die Erbinformation des russischen Volkes schon geschädigt habe und eine Art Prohibition verhängt. Wenn wir abends in die Stadt Bar fahren, um dort in den Läden nach Samowaren, Ölradiatoren oder Gold zu fragen, dann stechen uns die Konsequenzen im örtlichen „Univermag“, dem Kaufhaus, ins Auge. Der Bereich, in dem Alkohol gelagert und verkauft wird, ist eine Zelle, vergittert und hermetisch vom übrigen Verkaufsbereich getrennt. Einmal in der Woche wird hier Wein und Sekt ausgegeben – aus einer Art Tresor, gesichert wie die Bank von England.
„Mädchen denkt daran, ihr seid nicht aus Watte.“ Der dicke Parteisekretär hat seine Wattejacke gar nicht erst ausgezogen, die Einführung am Arbeitsort ist kurz und rüde. Mädchen an der Trasse. So ausgehungert die Arbeiter hier sind, so scheu benehmen sich die meisten gegenüber den wenigen Studentinnen in den Hilfsbrigaden. Alkoholexzesse oder auch anderer „Ärger“ – und blitzschnell hat der Trassenbauer, was er gern vermeiden will: die Rote Karte, die Rückfahrkarte. Auf etwa zwanzig der jungen Arbeiter kommt hier eine Frau, meist in der Küche oder der Wäscherei beschäftigt oder in den Büros, bei den „Lackschuhen“, wie die Ingenieure, Verwalter oder anderes Leitungspersonal verächtlich genannt werden. Eheschließungen zwischen Trassenbauern und Ukrainerinnen sind nicht gerade an der Tagesordnung, kommen aber vor. Dann heißt es, für den Brautvater einen Brunnen graben.
Rote Karte als schwarzer Peter
Erdgastrasse – das ist auch eine Diagnose. Nach einem halben oder dreiviertel Jahr gibt es sechs Wochen Urlaub und viele der Zwanzigjährigen bringen in dieser Zeit daheim ihr ganzes Geld durch. Ihre Ehen sind meist nicht stabil. Diese Kurve ist nicht selten: Nach drei Jahren kommt der Trassenbauer wieder nach Hause, die Frau stellt ihm den Stuhl vor die Tür, hat die Kinder, die Wohnung und das Geld. Er meldet sich wieder zur Trasse und gehört manchmal zu denen, die gar nicht mehr zurück wollen, die man zum nächsten Urlaub sogar zwingen muß. Hier gibt es Menschen, die wissen nicht, was sie in der DDR sollen. Die Trasse ist für sie die Mutter aller Dinge, gibt ihrem Leben Sinn, Ziel, Richtung. Dass sie vorbildliche Kerle sind, das lesen sie in den Zeitungen, die hier mit drei- oder viertägiger Verspätung eintreffen. Und sie dichten: „Mädchen in der Brigade bringt Kummer und Schade“.
Es gibt auch eine andere Sorte Trassenbauer: Die ist vierzig oder auch fünfzig Jahre alt, Vorarbeiter, Meister, Brigadeleiter. Die haben zu ihrer Frau gesagt, Mausi, wir halten zwei, drei Jahre durch, dann haben wir’s geschafft. Durch die Rote Karte sind sie nicht gefährdet.
Stiefel stecken noch im Schlamm
Einmal schickt mich der Brigadier übers Feld, ich soll dort eine Baulampe abbauen und zurückbringen. Ich wate durch den Schlamm, klemme mir Lampe und Stange unter den Arm und wate zurück. Bis es nicht mehr weitergeht. Bis ich in dem Schlamm einfach steckenbleibe. Ich versinke so nach und nach und brülle wie am Spieß. Zum Glück hört mich einer. Bis beinahe zur Hüfte stecke ich schon im Modder, als sie mir ein Seil zuwerfen. Zu dritt ziehen sie mich raus, wobei ich die Stiefel einbüße. Die müssen heute noch dort im Schlamm stecken, ich hatte keine Lust, nach ihnen zu graben. Bei Otto kriege ich neue und einen Kaffee. „Trasse is Klasse – nur BAM is Schlamm“, sagen die Erbauer. Ja die BAM, das ist sozusagen das letzte legendäre Großprojekt der Sowjetunion, die Eisenbahnlinie quer durchs wildeste Ostsibirien, die Baikal-Amur-Magistrale. Aber das erledigen die großen Brüder allein, damit sind die osteuropäischen Verbündeten nicht befasst. Alle haben den studentischen Trasseneinsatz 1986 übrigens nicht überlebt. Von einer entfernten Baustelle gelangt die Nachricht zu uns, dass dort ein Student erstickt ist, als ein ausgehobener Graben über ihm einfiel.
Eines Nachts, als wir wieder Stunde um Stunde graben, setzt plötzlich ein ohrenbetäubender Lärm ein, wie hundert Sirenen donnert es durch die Nacht. Verständnislos sehen wir uns an, ist denn etwa der dritte Weltkrieg ausgebrochen? Es ist aber nichts Besonderes, so lässt sich nur ein Überdruckventil vernehmen, das immer dann betätigt wird, wenn zuviel Erdgas durch die Röhre will. Damit die Verdichterstation nicht zerschmettert wird, muss ein wenig Erdgas in die Atmosphäre abgeblasen werden. Eine Gasmenge, mit der die Stadt Potsdam ein Jahr lang ausgekommen wäre, entweicht binnen Minuten brüllend in die Luft. Es gebe aber auch andere Nächte, versichern die Bauarbeiter. An denen könne man von hier aus die Raumschiffe vom Weltraumhafen Baikonur starten sehen. Ist das nun Trassenlatein?