Vier Jahre lang tagte im brandenburgischen Landtag eine Enquetekommission zur „Aufarbeitung“ der ersten Nachwende-Jahre. Sie bot ein Sittenbild.
Man stelle sich vor, der kürzlich verstorbene venezolanische Präsident Hugo Chávez würde Kraft seiner Amtsgewalt gemeinsam mit dem ebenfalls linksgerichteten Präsidenten Lula da Silva (Brasilien) und vielleicht noch mit der inzwischen wiedergewählten Präsidentin Michelle Bachelet (Chile) parlamentsamtliche Untersuchungskommissionen einberufen haben, um die Gesinnung und Gesittung der Zeitungen und Rundfunkstationen ihrer Länder zu durchleuchten. Und zwar für den Zeitraum der vergangenen 20 Jahre.
Man stelle sich weiter vor, diese Kommissionen würden in Parlament und Staat, in Polizei und Justiz jene aufgespürt haben wollen, welche diesen linken Präsidenten aus irgendeinem Grund politisch nicht in den Kram passen. Und das mit dem Ziel, sie durch Leute aus dem eigenen politischen Dunstkreis auszutauschen.
Man stelle sich ferner vor, diese Kommissionen würden das Bildungssystem ihrer Länder, das Museumswesen und die Gedenkstätten nach weltanschaulichen und geschichtlichen Positionen durchforstet lassen haben, die den amtierenden Präsidenten im Wege sind. Und so weiter.
Was gäbe es für ein Geschrei in Deutschland. Welch ein Aufstand des demokratischen Gewissens wäre die Folge. Wie laut und eindringlich bekäme man zu hören, dieses inquisitorische Vorgehen beweise, dass diese linken Politiker doch in Wahrheit keine Demokraten seien.
Eine solche Kommission wurde nicht in linksgerichteten südamerikanischen Ländern eingerichtet, dafür aber 2010 im rot-rot-regierten deutschen Bundesland Brandenburg.
Auf der Einrichtung einer solchen Enquetekommission bestanden 2010 nicht die regierenden Parteien SPD und Linke, sondern die Oppositionsparteien CDU, FDP und Grüne. Denen zufolge hat das Bundesland einen Landtag, eine Landesverwaltung, eine Medienlandschaft, denen man nur bedingt vertrauen könne. Das jedenfalls gaben diese drei Oppositionsparteien zum Besten, als sie 2009 die Einsetzung der Enquetekommission forderten. Titel: „Aufarbeitung der Geschichte und Überwindung der Folgen der SED-Diktatur und des Übergangs in einen demokratischen Rechtsstaat“.
Zwar wolle man „ergebnisoffen“ an die Sache herangehen, und es sei an einer „objektiven Bewertung von Wissenschaftlern“ gelegen, wie die CDU-Politikerin Johanna Wanka unterstrich, die zu diesem Zeitpunkt noch Fraktionsvorsitzende war. Aber das war Programm-Musik, und wie die Begründung zumindest des ersten Einsetzungsantrags bewies, stand das Ergebnis für die Antragsteller praktisch schon fest: Brandenburgs eigentliches Problem ist demzufolge in einer angeblich nicht aufgearbeiteten DDR-Vergangenheit zu sehen, in einer inkonsequenten Säuberung der Verwaltungen und des gesamten Staatsapparats, ferner in einem fortwährenden Wirken alter Stasi-Seilschafen in der Politik und – nicht zu vergessen – in einem Kartell Ewiggestriger, die sich die Medien des Bundeslandes unter den Nagel gerissen haben und pausenlos die Demokratie unterminieren, indem sie die DDR-Diktatur verklären. So – und nur so – könne das falsche Denken zustandegekommen sein, das die Menschen – wenn überhaupt noch – links wählen lasse.
Vier Jahre später lag ein Abschlussbericht vor, dem – im Großen und Ganzen jedenfalls – alle Fraktionen und auch der Landtag zugestimmt hatten. Von wenigen Punkten abgesehen waren die Formulierungen so austariert, dass ein jeder sich bei ihnen das Seine denken konnte. Politische Rücksichtnahmen dominierten und taten das Ihre, um den Vorgang endlich zu einem Abschluss zu bringen. Die folgende Bewertung der Kommission von Matthias Krauß gründet sich auf einer vierjährigen Beobachtung ihrer Tätigkeit.
Die Zusammenfassung
Ein verhältnismäßig großer Teil der Kommissionsmitglieder zog sich im Laufe der Zeit aus dieser Arbeit zurück. Hinzu kam, dass – vor allem in der Spätphase – einige berufene Mitglieder es mit der Anwesenheit nicht mehr so genau nahmen. Auf ein Übermaß an Ernsthaftigkeit deutet das nicht hin. Aber das war äußerlich. Der Eindruck, dass diese Versammlung mit dem selbstgesteckten Ziel völlig überfordert war, speist sich auch aus anderen Quellen. Vor allem inhaltlich ist die Enquete-Bilanz bezeichnend und keineswegs im Sinne derer, welche nach dieser Kommission gerufen haben. Die Enquetekommission 5/1 hat sich nicht oder allenfalls am Rande den Fragen gestellt, die Brandenburg politisch, finanziell, wirtschaftlich oder sozialpolitisch auf den Nägeln brennen. Bei der mehrjährigen Untersuchung stand die prekäre Lage genauso wenig im Mittelpunkt wie die Gründe dafür. Es wurden nicht die Ursachen für die verstörende demografische Entwicklung erforscht, für die Zweiteilung des Landes in eine Boomregion um Berlin und den sich entleerenden Rest. Nicht zur Debatte standen die Resultate des auch hinter Brandenburg liegenden Eigentumstransfers gigantischen Ausmaßes, und zwar von Ost nach West. Denn auch in Brandenburg verwandelte sich das einstige, von Ostdeutschen gesellschaftlich geschaffene DDR-Volkseigentum nach der Wende in westdeutsches oder ausländisches Privateigentum. Mit welch zweifelhaften Ergebnissen dieser größte Beutezug der deutschen Geschichte auch in Brandenburg behaftet war, blieb bei der Arbeit der Enquetekommission ausgeblendet. Unbeachtet blieb ferner, welche gesellschaftlichen Auswirkungen es hatte, dass nach 1990 West- und Süddeutsche die Geschicke des Landes auf allen maßgeblichen Ebenen bestimmten, wobei eine Diaspora-Situation im doppelten Sinne entstanden war: Die Ostdeutschen lebten danach unter der Regierungs- und Verwaltungsmacht einer Oberschicht, die einem fremden Kultbereich entstammte. Und diese Oberschicht gründete nicht selten (vor allem in Potsdam) ihre Kolonien und grenzte sich von den Beherrschten ideenreich ab.
Diese Enquetekommission befasste sich nicht mit der Teilung der Gesellschaft in Arm und Reich. Nicht mit den Ursachen um sich greifender rechtsextremer Gesinnung vor allem auf dem Lande. Und mit dem Problem der wachsenden Wahlmüdigkeit, Politikverdrossenheit und Enttäuschung nur insofern, als die aus der Perspektive der Initiatoren eine Folge „unbewältigter Vergangenheit“ oder falsch besetzter Positionen im öffentlichen Dienst sein könnten. Aber eines durften sie aus der Sicht vor allem der Oppositionsvertreter niemals sein: Folgen einer verfehlten Politik nach der politischen Wende.
Die Kommission erfüllte also – bezogen auf die wirklichen Fragen im Land – eine reine Ablenkungsfunktion. Weil ihre Arbeitsplattform eine so schmale war, konnte ihr Erkenntniswert allenfalls ein begrenzter sein. Und das gilt unabhängig davon, dass die Betreiber des Unternehmens „Enquete“ sich dessen bewusst gewesen sind oder nicht. Jene, die in den vergangenen 20 Jahren auf allen politischen Ebenen in Deutschland die Geschicke des Landes verantwortet haben, sind konfrontiert mit einer breiten Unzufriedenheit oder auch Verunsicherung. Kommen da die DDR und ihr Geheimdienst, überhaupt die „Vergangenheit“, als Buhmann gerade recht? Je länger die Arbeit der Kommission währte, umso stärker verdichtete sich der Verdacht, dass Teile der Kommission für das Versagen der etablierten Parteien einen Sündenbock präsentieren wollten. So war es – ganz nebenbei – immer: Wer bei gegenwärtigen Fragen mit dem Latein am Ende ist, für den fängt die „Vergangenheit“ an.
Bei den Untersuchungen der Enquetekommission wurde sich nicht mit Fehlverhalten befasst, das möglicherweise strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen müsste. Gesinnungsfragen und die einer eventuellen MfS-Mitarbeit waren ihr beinahe alles. Bezogen auf einstige MfS-Verstrickungen konnte es aber um nichts als Moral gehen. Nicht um Straftaten, sondern um – mögliche – moralische Verfehlungen. Und weiterhin ging es in der Kommission auf Druck der Opposition vor allem um die Bewertung von Welt- und Geschichtsbildern. Also von geistigen Inhalten. Damit stand diese Enquetekommission in der Tradition der katholischen Inquisition. Und wenn dieser oder jene unter den Kommissionsmitgliedern bei dem beschriebenen Treiben für sich die Rolle des Heils- und Lichtbringers beanspruchte, so schuldet man ihm oder ihr den Hinweis, dass dies auf die Einpeitscher der mittelalterlichen Inquisition auch zugetroffen hatte. Die beiden Regierungsparteien SPD und Linke müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, diesem Einbruch von finsteren Atavismus nicht entschlossen Widerstand entgegengesetzt zu haben.
Aber letztlich hätte man dieses Urteil schon in jenem Moment fällen können, als der Arbeitsplan für dieses Gremium beschlossen worden war. Mehr Fragen aufgeworfen als Antworten gefunden hat die Kommission aber auch gemessen an den Kriterien, die sie sich selbst gegeben hat.
Stellenweise trug die Debatte den Charakter eines Kulturkampfes. Entsprechend peinlich verliefen diesbezügliche Veranstaltungen der Kommission. Insgesamt gesehen hat jedoch die Anwesenheit von SPD- und Linken-Vertretern und auch die Arbeit der von ihnen als Experten Berufenen zu einer Versachlichung der Untersuchung beigetragen. Mancher heillosen Überspitzung wurde dadurch die Spitze abgebrochen. Mancher Radau-Ton in den Gutachten wurde des Saales verwiesen. In einer wichtigen Beziehung spiegelte die Kommission die allgemeinen Verhältnisse in Brandenburg wider: Wenn die Töne höhnisch, anklagend, schnippisch, obergescheit oder salbungsvoll klangen, dann waren die Quellen jung oder westdeutsch. Dann stammten sie also von Menschen, welche die DDR nicht erlebt und schon gar nicht erlitten hatten. Ein Mann, der zu DDR-Zeiten aus politischen Gründen inhaftiert war wie Ex-Innenminister Alwin Ziel, drang als Anzuhörender bei denen nicht durch mit seinem Satz: „Ich war nicht voller Hass“.
Differenzierter, ergebnisoffener, weniger selbstgerecht und weniger selbstgewiss traten ältere und ostdeutsche Akteure auf – auch von CDU-Vertreter Dieter Dombrowski ließe sich das sagen, der zu DDR-Zeiten aus politischen Gründen eine mehrjährige Haftstrafe absitzen musste. Er blieb – berechtigt – hart in der Sache, aber Elemente der Nachdenklichkeit haben bei ihm im Fortgang der Untersuchung zugenommen. Auch war er um wirkliche Pointen nicht verlegen, etwa, als er gleich zu Beginn den übrigen Kommissionsmitgliedern verriet, er sei als Sprössling einer Großfamilie „Patenkind von Wilhelm Pieck“ gewesen. Von ihm zu hören war auch der Hinweis, Linken-Fraktionschef Christian Görke stamme eigentlich aus gut-christlichem Elternhaus, doch habe der mit 16 Jahren Kirche und Glauben verlassen. Zu rätseln war, ob Görke deshalb als „schwarzes Schaf“ seiner Familie anzusprechen sei, oder man sachgemäßer eine andere Farbe dort eintragen müsste. Es war in zweieinhalb Jahren nicht zu vermeiden, dass auch andere, interessante, zum Teil unterhaltsame Dinge zur Sprache kamen.
Die extreme Gesinnungslastigkeit der Kommissionsarbeit, die auf das Streben von CDU, FDP und Grünen zurückging, hatte sich alsbald selbst gerichtet. Eine Einteilung in richtiges oder falsches Denken in Schule, Universität, Heimatmuseum, Zeitung und Rundfunk von einer solchen Kommission vornehmen zu lassen, wäre ein Unding. Ideologische Vorschriften zu erlassen bezogen auf die jüngste Vergangenheit, ist rechtsstaatlich bedenklich und offenbart eine Denkstruktur totalitären Zuschnitts.
Ein Lieblingsvorwurf gegen die Politik der Nachwendezeit in Brandenburg, der auch in der Kommission beständig wiederholt wurde, lautet, es habe sich bezogen auf die DDR-Vergangenheit auf Drängen der „Alten“ hin ein „Verschweigen“ breit gemacht. Das hat die Untersuchung widerlegt. Ein solches Schweigen, eine solche Macht der alten Eliten hat es (im Unterschied zu den NS-Tätern in der westdeutschen Nachkriegsdemokratie) nach dem DDR-Ende zu keinem Zeitpunkt gegeben. Sämtliche Parteien des Landes haben sich dieser Aufgabe gestellt, aber nicht nur sie. Niemals waren die Vorkämpfer der Vergangenheitsbewältigung an irgend etwas gehindert gewesen. Breit unterstützt von Medien, Justiz, Behörden, Kunst und Wissenschaft wurde eine regelrechte Aufarbeitungsindustrie aus dem Boden gestampft, die seither unablässig Tag für Tag das Publikum bearbeitet. Angesichts der Art und Weise, wie die tote DDR endlos durch die Spieße gejagt wird, ist Friedrich Schorlemmer recht zu geben, demzufolge die Abrechnung mit der DDR selbst schon totalitäre Züge angenommen hat. Eine von der Kommission in Auftrag gegebene Umfrage ergab, dass der größte Teil der Menschen davon die Nase einfach voll hat, weil ja tatsächlich seit 15 Jahren kein wirklich neuer Gedanke produziert worden ist.
Ein überraschendes Ergebnis zeitigte die Bearbeitung des Kapitels „Aufarbeitung der Vergangenheit“. Untersucht wurde dabei, wie die einzelnen Parteien sich ihrer DDR-Vergangenheit gestellt haben. Im Ergebnis wurde festgehalten, dass es nicht etwa die Linken gewesen sind, bei denen man Defizite vermuten oder aufstöbern könnte. Die Linken, so das Ergebnis, sind auf diesem Wege am weitesten gegangen. Der Gutachter entdeckte solche Defizite vor allem bei der CDU.
Dass im Bereich der Landwirtschaft die „roten Barone“, sprich die von der DDR übernommenen genossenschaftlichen Strukturen, das Unglück Brandenburgs sein sollen, ist als Vorwurf über 20 Jahre alt. Er wurde auch in der Enquetekommission wiederholt. Wie seltsam nahm sich aber das eigentlich neue Untersuchungsergebnis auf diesem Feld aus: nämlich, dass der Agrarbereich des Landes zu DDR-Zeiten viel reichhaltiger, vielseitiger, nachhaltiger und zukunftsträchtiger gewesen ist als nach der Wende. Das lässt sich nicht auf die Agrargenossenschaften Brandenburgs zurückführen, sondern hängt mit dem marktwirtschaftlichen Umfeld zusammen, in dem die märkische Agrarwirtschaft heute bestehen muss.
Im Vorfeld der Kommission wurden eine Handvoll „Stasi-Fälle“ präsentiert und daraus der Vorwurf konstruiert, Brandenburg schmachte unter dem Diktat finsterer Stasi-Seilschaften, die ihre Tentakeln in den Parteien verhakt hätten und das Land an einer glücklichen Zukunft hinderten. Bis auf einen Fall hatten diese Beispiele keine Konsequenz, weil bei genauerem Hinsehen dafür rechtlich kein Anlass und auch keine Möglichkeit bestand. Und selbst die Entlassung eines Polizeisprechers war mit dem Zweifel behaftet, dass hier ein Opfer preisgegeben worden ist und unter geruhsam-rechtsstaatlichen Bedingungen diese Entscheidung so nicht gefallen wäre. Im Laufe der Untersuchung wurde nachgewiesen, dass die Besetzung der Positionen im öffentlichen Dienst in Brandenburg nach rechtsstaatlichen Kriterien erfolgt war – unabhängig von der Antwort auf die Frage, ob im Einzelfall die Zustimmung heute noch erteilt worden wäre. Ein geringer Teil der heute im Polizei- und Justizdienst Beschäftigten hatte zu DDR-Zeiten Kontakte zum Geheimdienst MfS. Dieser Umstand ist seit Jahrzehnten bekannt. An keiner Stelle gingen die Kommissionserkenntnisse auf diesem Feld über diese Tatsachen hinaus. Begleitet war die Arbeit von einer wirkungsvollen Skandalisierung uralter Fakten. Die Gremien, welche Anfang der 90er Jahre die Personalfindung für Polizei und Justiz vorgenommen hatten, waren von CDU, SPD, FDP und Bürgerbewegungen besetzt, die SED-Nachfolgepartei PDS spielte dort praktisch keine Rolle. Wem die Verantwortung für eventuelle Fehlentscheidungen zufällt, war damit entschieden. Veränderungen für den Landesdienst in der Jetztzeit gingen aus diesen Erkenntnissen so gut wie keine hervor. Denn gegen eine Ur-Macht waren auch die Oppositionsvertreter in der Enquetekommission machtlos: und die heißt deutsches Beamtenrecht.
Ein wenig anders lagen die Dinge im politischen und Wahlbereich, und hier gerieten die Aufklärer der Oppositionsparteien und die von ihnen berufenen Wissenschaftler der Enquetekommission in ein logisches Dilemma, aus dem sie sich bis zum Ende der Untersuchung nicht befreien konnten. In ihrem während der Arbeit präsentierten Weltbild nämlich hängen Politikverdrossenheit und Wahlabstinenz der Brandenburger mit der Existenz von Stasi-Fällen und „alten Funktionsträgern“, mit „alten Seilschaften“ in der politischen Sphäre zusammen. Tatsächlich aber war es die Partei „Die Linke“ (früher PDS) mit ihren sattsam bekannten und bekennenden MfS-Mitarbeitern und alten SED-Funktionären, die in den Nachwendejahrzehnten immer mehr Zuspruch beim Wähler gefunden hatte. Im Gegensatz zu den lupenreinen Demokraten (FDP und Grüne) gelang es den Linken, Menschen via Wahlakt an die Demokratie zu binden. Hier lag bei der Opposition ein geistiger Ansatz vor, der beeindruckend mit der Realität kollidiert. Und das wirft die Frage nach ihrer Wahrnehmungsfähigkeit der Wirklichkeit insgesamt auf. Ähnlich lagen die Dinge mit der notorischen Verengung des Blickwinkels der Opposition auf Brandenburg. Dass die von ihr getadelten Zustände in vielen Fällen aber in ganz Ostdeutschland anzutreffen sind, dass sie in allen neuen Ländern auftreten und man also bei der Ursachenermittlung weit über das Bundesland Brandenburg hinausblicken müsste, spielte in ihrem Denken keine Rolle. Obwohl im nationalen und kontinentalen Maßstab Prozesse in Gang gekommen sind, die auch die Gegebenheiten in Brandenburg in näherer und fernerer Zukunft maßgeblich prägen werden, verharrte die Enquetekommission bei ihrem Tunnelblick und schaute in der Regel nicht über den brandenburgischen Tellerrand hinweg.
Eine Grundannahme der Opposition lautete, dass im öffentlichen Dienst Brandenburgs viel zu viele Menschen arbeiten, die das eigentlich aufgrund ihres Verhaltens zu DDR-Zeiten nicht dürften. Dabei konnte sie nicht ein einziges Beispiel für Fehlverhalten der Betreffenden vorlegen oder dafür, dass solche von der DDR übernommenen Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes der Demokratie, dem demokratischen Gedanken im Wege gestanden hätten. Die von der Opposition benannten Ausforscher waren an rein formalen Kriterien interessiert, in erster Linie an denen der “Herkunft“. Es fehlte jeder Nachweis, dass Handlungen oder Entscheidungen der Betreffenden rechtsstaatlich auch nur bedenklich gewesen wären. Den Ehrgeiz, diesen Nachweis zu führen, besaßen die Opposition und ihre Helfer in der Wissenschaft auch nicht einmal. Auch, dass Menschen in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten sich geändert und hinzugelernt haben könnten, beachteten sie nicht. Es ging ihnen lediglich darum, aus einer zu DDR-Zeiten gehaltenen Position ein Zwielicht zu entzünden, das sich im besten Fall zu einem Entlassungsgrund aufblasen ließ. Und was die neuen, von Westdeutschen gebildeten Seilschaften in Staat und Verwaltung Brandenburgs den eher erfundenen, nichtsdestotrotz notorisch angefeindeten „alten Seilschaften“ eigentlich voraus haben, würde man auch gern einmal erfahren.
Es ist von vornherein richtig, wirtschaftliche Gesichtspunkte ins Spiel zu bringen und einen Blickwinkel zu wählen, der die unmittelbare finanzielle Aneignung erfasst. Die eigentlichen Motive für politische Manöver finden sich fast immer hier. Vor allem dann, wenn sie sich moralisch herausputzen. Die Einkommen im öffentlichen Dienst Brandenburgs liegen in ihrer Höhe zwischen dem Doppelten und dem Dreifachen dessen, was Beschäftigte in der gewerblichen Wirtschaft des Landes verdienen. Die durchschnittliche Beamtenpension erreicht heute das Vier- bis Fünffache dessen, was in Brandenburg auf Menschen nach einem Leben von Arbeit, vielleicht Arbeitslosigkeit und Beitragszahlung im Schnitt an Rente wartet. Auch aus anderen Gründen gilt: Zweifellos ist der öffentliche Dienst Brandenburgs eine Insel der Seeligen in einem ansonsten recht kühlen Meer. Die dort Beschäftigen, und dazu gehören natürlich auch diejenigen, die aus DDR-Tagen dorthinein übernommen worden sind, leben und arbeiten unter Bedingungen, von denen ihre brandenburgischen Mitbürger nicht einmal zu träumen wagen. Möglicherweise ließe sich hier schon berechtigt von einer Klasseneinteilung der Gesellschaft sprechen. Diese gegenwärtigen Verhältnisse hat aber nicht die DDR zu verantworten. Diese ungerechten Zustände sind heiligste Güter Westdeutschlands und Blüten am Baum der Demokratie. Und insofern müssten die futterneidischen Kritiker aus den Reihen der Erzdemokraten sich an dieser Stelle selbst kritisieren.
Ein Ergebnis der Enquetekommission, vielleicht das einzige mit einem praktischen Bezug, war, dass Menschen, die Opfer der DDR gewesen sind, besser gestellt werden müssten, dass ihr Zugang zu Entschädigungen erleichtert werden sollte. Dem widersprach niemand in der Runde, es handelte sich um den am wenigsten strittigen Punkt. Das festzustellen und zu korrigieren, hätte es im Übrigen keiner Enquetekommission bedurft. Und weil seitens der Opposition diese Besserstellung mit anklagendem Blick auf die rot-rote Landesregierung gefordert wurde, müssen einige Dinge genauer beleuchtet werden. Wenn Opfer der DDR 23 Jahre nach Ende dieses Staates in unzumutbaren Zuständen leben und, wie die Landesbeauftragte Ulrike Poppe sagte, finanzielle Unterstützung für den Kauf einer Fahrkarte in die nächste Kreisstadt benötigen, dann ist das eine Schande. Denn in diesem Fall sind sie nicht nur Opfer gewesen sondern auch geblieben. Und eine Schande ist es außerdem, dass es überhaupt Menschen in Brandenburg gibt, die unter solchen Bedingungen leben müssen. Der Nachweis, dass sich solche unhaltbaren Zustände auf Brandenburg beschränken, ließ sich nicht führen, es gibt sie in allen neuen Ländern. Allerdings kann man diese Lage nicht mehr der DDR oder der SED anlasten. Sondern jene tragen daran die Schuld, welche die geltenden Regeln nach der Wende aufgestellt und solche empörenden Zustände nicht verhindert haben. Offenbar hat nicht nur die politische Entwicklung vor 1990 ihre Opfer gefunden, sondern auch die danach. Zu den Fragen, die während der Enquetetätigkeit eben nicht beantwortet wurden, gehört auch die, warum den Parteien CDU, FDP und Grüne diese Defizite erst aufgefallen sind, nachdem die Linken 2009 in die Landesregierung eingetreten waren und nicht etwa in jenen 10 Jahren, in denen es der CDU als Regierungspartei in Brandenburg ein Leichtes gewesen wäre, hier gegebenenfalls Abhilfe zu schaffen. Grüne und FDP hatten nach der Wende Regierungsverantwortung auf Bundesebene getragen, was ihnen wirkungsvolle Maßnahmen der Korrektur und Besserstellung der Betroffenen in ganz Ostdeutschland gestattet hätte.
Zu den interessanten psychologischen Erscheinungen der menschlichen Gesellschaft gehört die Erfahrung, dass Gegner in langandauernden Auseinandersetzungen Eigenschaften austauschen. Leider meist die unerfreulichen, man muss der Realität ins Auge sehen. Und es fällt auf, wie gerade die größten Kritiker der DDR, die eifrigsten „Aufarbeiter“, die bedenklichen Züge dieses Staates kopieren und praktizieren. Wer heute die Exponenten der Aufarbeitung von fern sieht, der hat den Eindruck von einer besonders rabiaten Agitprop-Truppe. Die gleiche Engstirnigkeit, die gleiche Rechthaberei, die gleiche Unwilligkeit, der anderen Seite auch nur ein Minimum an Berechtigung zuzugestehen. Die gleiche Lust an der Beschimpfung. Und die gleiche Manie, Unterschiede in den Ansichten immer gleich ins Grundsätzliche aufzubauschen und solcher Unterschiede wegen die Andersdenkenden persönlich herabsetzen zu wollen. Von alldem hatten die Oppositionsvertreter jede Menge Proben abgegeben, die Arbeit der Enquetekommission war davon durchtränkt, um nicht zu sagen: vergiftet.
In ihrem Einsetzungsantrag zur Enquetekommission warfen die drei Parteien CDU, FDP und Grüne die Frage auf, ob der Prozess der Demokratisierung Brandenburgs überhaupt erfolgreich gewesen ist. Diese Frage war berechtigt. Wenn in Brandenburg Kräfte an Werke sind, die Gesinnung vorschreiben und zensieren wollen, wenn es Kräfte gibt, welche, politisch motiviert, die Ergebnisse rechtsstaatlicher Personalfindungsprozesse außer Kraft setzen wollen, wenn es ferner Kräfte gibt, die Gesetze, Persönlichkeitsrechte und rechtsstaatliche Standards nicht zu respektieren bereit sind, dann sind Demokratie und Rechtsstaat zweifellos in Gefahr. Das muss mit Blick auf diese drei Parteien unterstrichen werden, denn die hatten sich somit selbst überführt. Nach Hause schicken sollte man sie auch noch mit diesem Hinweis: Wer eine ehrliche und aufrichtige Debatte fordert, der muss die Bedingungen dafür herstellen. Andernfalls ist das Verfahren ein heuchlerisches. Das Auftreten der Initiatoren verurteilte diese Kommission zu einem Dasein als Bestandteil einer endlosen deutschen Rache- und Abrechnungsmaschinerie, für die es ein Vierteljahrhundert nach dem Ende in der DDR keinen menschlich oder juristisch motivierten Anlass mehr geben kann.
Der eher defensive Auftritt der beiden Regierungsparteien SPD und Linke im Zuge der Debatte trägt mit dazu bei, dass solche Affekte nicht zur Ruhe kommen. Auch nach zweieinhalb Jahren Enquetetätigkeit bleibt eine fatale Aussicht: Brandenburg ist nicht davor geschützt, dass dieses ganze Unternehmen, das ganze Theater, an irgend einem Punkt von neuem beginnt. Wenn also die Enquetekommission 5/1 überhaupt einen politischen Nutzen über die verbesserte Opferentschädigung hinaus erbringen soll, dann müsste hier politisch gehandelt werden. Und was die DDR-Vergangenheit betrifft, sollte endlich das gezogen werden, was seit Jahrzehnten überfällig ist: der Schlussstrich. Brandenburg könnte hier Vorreiter sein und Verfolgungen mit diesem Impetus regierungsamtlich beenden.
Auch dann würde und müsste die Debatte um die Vergangenheit weitergehen. Auch dann wäre über die DDR weiter zu reden. Aber die Brandenburger sollten in Zukunft nicht länger ausschließlich mit der Problematik einer Welt befasst werden, in der sie schon lange nicht mehr leben. Sondern vorrangig mit der Problematik einer Welt, in der sie heute leben und morgen leben werden. In den Fokus müsste künftig das rücken, was tatsächlich zweieinhalb Jahrzehnte lang liegengeblieben und als geistiges Defizit vorhanden ist. Gemeint sind Verbrechensgeschichte und Verbrechensbilanz des freien und demokratischen Westens. Sie schreien nach Aufdeckung. Und auch Art und Umfang, in denen die Bundesrepublik Deutschland in diese Verbrechen verstrickt war, sollte endlich offengelegt werden und Gegenstand einer breiten öffentlichen Debatte sein.