Als auch ich in das kapitol eindrang

Und das mit Gottes Segen/Erlebnisbericht von1992

Von Matthias Krauß

Jesus steht an der Treppe und unterhält sich mit einer Gruppe schnatternder Japaner. Die Touristen aus Fernost (aus der Perspektive der USA wohl eher Fernwest) feixen herum, umschwärmen und betasten ihn. Jesus, bzw. der junge Mann in einem Jesus-Kostüm, ist um Fassung bemüht und spielt würdevoll seine Rolle hier am Fuß der Treppe zum Washingtoner Kapitol. Er segnet alle auf die Erlaubnis zum Eintritt wartenden Eindringlinge, mich eingeschlossen.

Seine Bewunderer lässt dieser Jesus zu sich kommen, aber bitte zu Fuß. Vom Sicherheitsdienst abgesehen, dürfen Autos nicht mehr an das Washingtoner Kapitol heranfahren und Lastwagen schon gar nicht. Daran ist der libysche Staatschef Muammer al-Gadaffi schuld. Er soll irgendwann einmal damit gedroht haben, den Sitz des US-Kongresses in die Luft zu jagen. Den stolzen Amerikanern blieb nichts anderes übrig als das ernst zu nehmen und Betonpfeiler, getarnt als Blumenkästen, zwischen ihrem Nationalheiligtum und der bösen, terroristisch veranlagten Außenwelt zu versenken.

Toleranzgrenze Potomac

Seit 1800 ist die Stadt Washington, damals zehn Jahre alt, Bundeshauptstadt im dafür festgelegten District Columbia (daher Washington D. C.). Auf weitgehend ausgeklammerte Weise nahmen die USA die als kommunistisch verschriene Manier vorweg, Städte mit dem Namen politischer oder sonstwie nationaler Größen zu belegen. George Washington, der Personenkult in eigener Sache abhold, soll vorgeschlagen haben, die neue Bundeshauptstadt nach Kolumbus zu benennen. Erst nach langem Tauziehen konnten sich die 13 Gründerstaaten auf diesen Standort an der Grenze zwischen Maryland und Virginia einigen. Die im Süden liegenden ehemaligen Kolonien wollten eine weiter nördlich liegende Hauptstadt nicht akzeptieren. Am Potomac River war ihre Toleranzgrenze erreicht.

Erstmal Trachtenhut

Das erste Kapitol, das sich die USA in ihre capital setzten, erinnerte an einen gigantischen Mischling aus preußischer Pickelhaube und bayerischem Trachtenhut. 1863, d.h. mitten im Bürgerkrieg, wurden die Umbaupläne bestätigt. Nun erhielt das Hohe Haus ein würdiges Dach, würdig, weil es an den Petersdom in Rom erinnert. Außerdem baute man zwei Seitenflügel im griechisch-römischen Tempelstil an, denn im Zuge der fortgesetzten territorialen Ausdehnung und Vergrößerung der USA benötigten auch ihre Repräsentanten und Beamten mehr Platz.

Problematisches Elternpaar

Und so bietet sich das Kapitol heute den wohlwollenden, begeisterten oder skeptischen Besuchern dar: Klassizistische Fassade, bewährte Antike. Schon Karl Marx beschrieb im „18. Brumaire“ den Hang des Bürgertums, sich Trachten der Vergangenheit auszuborgen, um in ihnen das eigene Welttheater aufzuführen. Das setzt sich im Inneren des Hauses fort. Da ist der holzgetäfelte, samet oder brokat ausgeschlagene Sitzungssaal des ersten US-Kongresses. Marmorne Palastkultur durchzieht das ganze Haus. Alles in aristokratischer Gehaltsklasse. Da wollten die USA nun eine so bedeutende Alternative sein zu den Feudalmächten Europas. Und brachten in den Äußerlichkeiten eben nichts anderes zustande als einen Abklatsch dieser feudalen Pracht. Lässt das Rückschlüsse zu? Im Grunde müssten wirklich neue politische Inhalte auch eine neue Ästhetik erzeugen, nach neuen architektonische Formen drängen. Aber die Ende des 18. Jahrhunderts sich dortzulande bildende Sklavenhalterdemokratie war ja von den europäischen Feudalmächten, dem „alten Europa“, nur insofern verschieden, als es den Unterdrückungsgestus ins Gigantische trieb, teuflisch überbot, auf eine demokratisch-gesetzliche Grundlage stellte und alles übernahm, was die alte Welt an Menschenverachtung ausgeprägt hatte. Völkermord (an den Indianern) hieß der Vater. Nackte Sklaverei hieß die Mutter. Das war das Elternpaar, welches diese US-amerikanische Demokratie zeugte.

Washington muss nicht frieren

Hauptattraktion des Touristenmarsches durchs Kapitol ist der Kuppelsaal. Vollgestopft mit dem, was der Nation lieb und teuer ist und ihr als erinnernswert erscheint. In die Kuppel ist der Himmel gemalt, dort schwebt – Gottvater gleich – George Washington und blickt prüfend auf das irdisch-amerikanische Treiben herab. Fürsorglich hat ihn der Künstler mit einer wärmenden Decke versehen. Hier hat auch Martin Luther King seiner Büste – schwarzer Basalt vermutlich. Riesengemälde an den Wänden des mit Gaffern überfüllten Saales erinnern an die großen Stunden der Nation: Als Kolumbus Amerika entdeckte, als die „Mayflower“ mit den ersten Pilgern die weißen Wölfe übers Meer in die Neue Welt brachte, als der Vorstoß zum Mississippi gelang. An gleich vier Stellen wird dem ehrfürchtig wandelnden Betrachter vor Augen geführt, wie grausam die Indianer mit den weißen Eindringlingen umgegangen waren. Das es hier und da auch einmal umgekehrt war, konnte ich nicht entdecken. Aber ich könnte es übersehen haben.

Steuerfreiheit ist auch Freiheit

Ein Bild, wie es aus wohl jedem Geschichtsbuch bekannt ist, gibt die Verlesung der Unabhängigkeitserklärung vor den Vertretern der 13 Gründerstaaten wieder. „No taxation without representation“ (Keine Besteuerung ohne politische Vertretung) wurde den Sachwaltern des Königs entgegengeschleudert. Rasch steigerte sich das zu: „Freiheit oder Tod“. Und das war’s dann auch wieder: Sie riefen Freiheit und sie meinten Steuerfreiheit. Der englische King (auch ein George), ihr Herr und Gebieter, war weit, seine Möglichkeit, sich in den amerikanischen Kolonien durchzusetzen durch Kriege in Europa eingeschränkt. Da schlugen die Vertreter der Freiheit los. Dennoch war der Sieg von Washingtons Truppen keine sichere Sache, war nach unglücklichem Verlauf in der ersten Phase des Krieges im Grunde schon abgeschrieben, bis das Eingreifen der französischen Königstruppen das Blatt noch wendete. Der Pariser Ludwig erreichte, dass Traditionsfeind England seine Kolonien verlor. Er selbst ruinierte sich bei diesem Manöver dermaßen, dass wenig später auch der französische Thron nicht mehr besetzt war. In Nordamerika fuhr General Steuben den Engländern in die Parade. Mit Erfolg. Die Sklavenhalter waren endlich frei und konnten ungestört vom „alten Europa“, das wenig später die Sklaverei verbot, noch hundert Jahre lang die Früchte ihres grauenhaftes Regimes genießen.

Lincolns Faust

In seinem politischen Herzen lässt Amerika nicht allzuviele Experimente im künstlerisch-architektonischem Bereich zu. Formenwelt in griechisch-römischen Stil. Vorbei an Wasserspielen von Versailler Ausmaßen bewegen wir uns auf das graue Lincoln-Monument zu, das hundert Jahre nach Gründung der USA aus Reparationsleistungen der niedergerungenen Südstaaten finanziert worden sein soll. In seinem Inneren ein sitzender gewaltiger Abraham L. Mit dem Fotoapparat habe ich Lincolns Faust bildlich in den Vordergrund geschoben, die war ja wohl nicht der unwichtigste seiner Körperteile. Im Zehnminutentakt treffen Stadtrundfahrt-Busse vor diesem Bauwerk ein, die alltägliche „Wave to Abe“ (Welle zu Abe) wie die Reiseführerin witzelt.

Eine gute Ausnahme

Dem gegenüber kündigt eine patriotische Kiosk-Zusammenballung, wo Sternenbanner und diverse militärisch-patriotische Utensilien angeboten werden, eine weitere Sehenswürdigkeit an. Darf ich sagen, dass es sich um das einzige wirklich geniale und unvergessliche Kunstwerk handelt, dem ich an diesem Tag begegnet bin? Und als Ausnahme von der abgesicherten Fassadenkunst wirklich bedeutsam. Es ist das Denkmal für die im Vietnamkrieg ums Leben gekommenen US-Soldaten. Gedacht wird ihrer an diesem Ort auf eine so einfache wie überwältigende Weise. Aufgeschüttet ist ein flacher Hügel der dann gleichsam aufgeschnitten wurde. Dabei entstand an der „Schnittfläche“ das Segment eines Halbkreises, ein flacher Bogen. Und diese Fläche ist mit schwarzen Marmorplatten ausgelegt, auf denen die Namen aller 58.000 gefallenen Marines vermerkt sind. In gleichem Maße, wie nach zögerndem Beginn die Verluste der US-Armee mit anschwellender, immer wilderer Kriegsbeteiligung zunahmen, um zum Ende hin im Zuge des Rückzugs wieder abzunehmen. Dieses ausgezeichnete Werk hat übrigens eine Vietnamesin entworfen, erzählt mir Gerry. An der Kunsthochschule habe es dafür nur eine Zwei minus gegeben.

Ohne Falken geht es nicht

Dieser Eindruck ist sehr bewegend, auch ein weiteres Denkmal in Front des riesigen Grabsteins kann ihn nicht zerstören. Drei bronzene Marines stützen sich gegenseitig und blicken herausfordernd sowie großartig um sich. „Sie geben „realistisch“ wieder, was die USA heute in ihren Vietnam-Kreuzfahrern sehen wollen. Das ist für diejenigen gedacht, die mit der schreiend-schweigenden Marmorwand nichts anfangen können. Ohne diese Konzession an die „Falken“ geht es eben doch nicht.