Eisenhüttenstadt - Hintergrund des Aufarbeitungsfilms

Ganz andere Menschen

„Liebe ARD, Erfahrung macht klug. Und die gibt uns ein, dass wir uns auf weiteren Schwachsinn freuen können. Bereit sein ist alles.“ So endete meine Rezension eines dieser filmischen DDR-Aufarbeitungs-Schinken mit denen Ostdeutschland seit der Wende belästigt wird. Hohe Erwartungen waren also nicht im Gepäck, als ich die Presse-Voraufführung des neuen Films von Bernd Böhlich „Und der Zukunft zugewandt“ besuchte. Zweifellos ist dieses Werk mit Blick auf den bevorstehenden 30. Jahrestag des Mauerfalls entstanden, und die öffentlich-rechtlichen Sponsoren würden die Musik nicht nur bezahlen, sondern auch bestimmen. Eingangs, d.h. wir warteten auf dem Filmbeginn, bekam ich Gesprächsfetzen der West-Kollegen mit: „Und der Zukunft zugewandt – ist das aus der Hymne der NDR, äh, ich meine natürlich der DDR?“

Ja, so ist es. Der Filmtitel ist eine Zeile aus der besten Nationalhymne, die es jemals in Deutschland gegeben hat. Vielleicht wäre ein noch besser möglich gewesen, denn eine zentrale Rolle in diesem Film spielt nicht die DDR-Nationalhymne, sondern ein anderes Lied aus dem sozialistischen Repertoire: „Brüder, seht die roten Fahnen…“.

Vorgeführt werden im Film zunächst alle Attribute des Nachwende-Aufarbeitungsfilms: moralischer Zwiespalt, geschundene Seelen, der Widerspruch zwischen Schein und Sein, der Stasi-Verrat. Am Beginn steht ein Albtraum. In einem sibirischen Arbeitslager wird ein inhaftierter Deutscher erschossen, weil er sein Kind zum Geburtstag besucht hat (was ihm als Fluchtversuch ausgelegt worden war).

Aber dann: Drei unschuldig in diesem Lager inhaftierte Frauen – alle kommunistische Funktionäre – kommen auf Initiative der DDR-Oberen überraschend frei und können in dieses Land ausreisen. Empfangen werden sie in Fürstenberg, was zunächst die Ahnung entstehen lässt, hier könnte der Ort des Nazi-Frauen-KZs gemeint sein, denn das Lager Ravensbrück liegt in der brandenburgischen Gemeinde Fürstenberg. Aber – und so ist es ja auch in Wirklichkeit, es gibt in Brandenburg ein zweites Fürstenberg, eine Gemeinde, die in diesen Jahren zum späteren Eisenhüttenstadt entwickelt worden war, zur „ersten sozialistischen Stadt auf deutschem Boden“, wie es emphatisch dazu hieß. Dort treffen die drei Frauen ein, alle drei werden fürsorglich behandelt und betreut, sie bekommen eine Wohnung (nach damaligen Maßstäben eine sehr gute Wohnung), anspruchsvolle Arbeit, Perspektiven. Das schwer kranke Kind von Filmheldin Antonia (in dieser Hauptrolle überzeugend: Alexandra Maria Lara) kann gerettet werden. Sie geraten – faktisch – in die privilegierte Situation, die die DDR den Opfern des Faschismus zuerkannte, den Widerstandskämpfern ohnehin. Durchgängig ist das ehrliche Bemühen der SED-Funktionäre aller Ebenen, diese Frauen für das erlebte Grauen zu entschädigen, soweit dies überhaupt möglich war. Die einzige Bedingung: Über das in der Sowjetunion Erlebte müssten sie Schweigen bewahren. Das unterschreiben sie mehr oder weniger widerwillig.

„Jetzt fangen wir ganz neu an“, heißt es am Ende eines Films, der mehrere Fragen aufwirft und sie keineswegs unweise beantwortet. Denn natürlich leben diese Frauen weiter in Zwängen und Widersprüche, ihren Hoffnungen bleiben Enttäuschungen nicht erspart. „Unsere Revolution ist kein Wunschkonzert“, belehrt an einer Stelle der Parteisekretär, der den jüdischen Namen Leo Silberstein trägt, im Film verkörpert von Stefan Kurt. Zwei in der Gruppe bleiben in der DDR und stellen sich ihrem Aufbau zur Verfügung. Die dritte Rückkehrerin geht in den Westen und wird eine erklärte Feindin des ostdeutschen Staates.

Es ist ein Verdienst des Regisseurs Böhlich, in seinem Film fair mit den Konflikten umgegangen zu sein. Das bedeutet, die Gründe der Frauen, sich für die DDR zu entscheiden, waren um nichts schlechter, dümmer, verworfener oder schäbiger als die Gründe der dritten Frau, die DDR zu verlassen und sich ihr gegenüber feindlich zu verhalten. Der sehenswerte Film ist letztlich eine Abrechnung mit der Vorstellung, in der DDR habe sich das Böse entfaltet und in Westdeutschland das Gute. Alles war – auch von seiner Anlage her – viel komplizierter, vielschichtiger, uneindeutiger.

Die Macht der Schweigeverpflichtung lastet auf der Handlung – am Ende verbrennt Antonia ihr Lager-Tagebuch, streicht also ihre fürchterlichen Jahre in der Sowjetunion aus ihrem Leben, radiert sie aus, so wie es von ihr gefordert war. Leicht macht es sich der Film auch an dieser Stelle nicht. Gab es angesichts der enorm schwierigen, geradezu verzweifelten wirtschaftlichen und sozialen Lage in der DDR, angesichts einer bettelarmen, kriegszerstörten und misstrauischen Besatzungsmacht, angesichts der westlichen Konkurrenz, der Massenflucht in den Westen eine Alternative zu dieser Art von Betäubung? War diese Bedingung nicht unumgänglich, um die wenigen Pflänzchen der Hoffnung zu schützen?

Der Film diskutiert aber noch mehr. Denn er stellt auch die heute bezogen auf die DDR obwaltenden Grundvorstellung auf den Prüfstand, man dürfe Unbill nicht vergessen, nichts sei zu verzeihen oder zu vergeben. Sondern es gehe darum, ständig und unter allen Umständen auch Jahrzehnte später noch Wunden aufzureißen, sie am Vernarben zu hindern. Die Frage bleibt, ob dieses endlose Herumbohren nicht einfach nur großer Mist ist, und alle Seiten nur noch kranker macht, als sie vorher schon waren.

Natürlich verführt der geschichtliche Rückblick – die Kenntnis des historischen Fortgangs also – dazu, Entscheidungen von 1952 in die richtigen und die falschen einzuteilen. Aber – und auch hier setzte der Film gut an – es ist kindisch, eine menschliche Entscheidung von 1952 mit den Augen von 1989 bewerten zu wollen. Mindestens unhistorisch. Aus den Ereignissen von 1989 lässt sich eben nicht ohne weiteres darauf schließen, dass 1952 alles falsch gewesen sein muss, was im Osten Deutschlands geschah. Eine bessere Folie ist hier der Roman, der ja ein Richtig oder ein Falsch auch nicht kennt, sondern den Fortgang in eine unsichere, oft qualvolle Zukunft. Oder ein Shakespeare, in dessen Dramen beide Seiten Berechtigung für ihren Standpunkt reklamieren können und die doch fatalerweise einander ausschließen.

Jüngeren Zuschauern kann der Film vielleicht vermitteln, was Menschen in jenen längst vergangenen und doch immer noch so nahen Zeiten zu dieser oder jener Entscheidung veranlasst haben könnte. Schwer genug muss das sein, denn Welten liegen zwischen dem Leben Anfang der 50er Jahre in Eisenhüttenstadt und dem, was junge Menschen heute führen. Nur zwei oder drei Generationen trennen diese Deutschen voneinander, aber es waren ganz andere Menschen, die unter ganz anderen Bedingungen in ganz anderen Zwängen handeln mussten. Diese frühen DDR-Jahre waren eine hochgradig idealistische Zeit, die mangels Verteilmasse in einem Maße an Entsagung und Selbstverleugnung appellieren musste, wie das heutigen Jüngeren geradezu ein Rätsel oder zumindest schwer verständlich sein dürfte. Sie müssen sich dagegen in einer Welt zurechtfinden, die Hedonismus und Egoismus ihre Triumphe feiern.

Die filmisch-emotionale Umsetzung zu den Klängen des Liedes „Brüder seht die Roten Fahnen…“ hat etwas Bezwingendes. Im Abspann ist von einer „englischen Volksweise“ die Rede. Das Lied ist aber vor allem eines der populärsten im US-amerikanischen Bürgerkrieg gewesen („Hold the Forth for we are comming….“) und wurde später von der deutschen Arbeiterbewegung – versehen mit einem sozialistischen Text – adoptiert.

Was ist im Film weniger überzeugend? Dass Anna als Rückkehrerin aus dem Lager erst Monate später ihre eigene Mutter besucht, will nicht in den Kopf. Auch ist nicht recht glaubhaft, dass die Staatssicherheit in Verhören ihre Zuträger „auffliegen“ ließ. Beinahe ärgerlich die Zeichnung des Arztes und Geliebten (gespielt von Robert Stadlober), der schließlich doch in den Westen geht und den man zwangsläufig symbolisch nehmen muss. Denn die rund 20.000 Ärzte, die zwischen 1945 und 1961 Ostdeutschland Richtung Westen verließen, taten dies nicht, weil ihnen die DDR zu wenig rot oder zu wenig kommunistisch war. Sie ließen ihre ostdeutschen Patienten im Stich, weil sie einfach Kasse machen wollten und das ging im Westdeutschland für Menschen, die Medizin studiert hatten, nun einmal besser.

Des ungeachtet: Ein guter Film zur rechten Zeit.

„Und der Zukunft zugewandt“, ein Film von Bernd Böhlich, Deutschland 2019, 108 Minuten, Neue Visionen Filmverleih