Ein neues Buch vergleicht die Situation von Schwerbehinderten der DDR mit denen in der BRD und in der Zeit nach 1990
Von Matthias Krauß
Was ist seit der Wende nicht alles besser geworden für die körperlich Schwerbehinderten in Ostdeutschland! Barrierefreiheit ist nicht überall durchgesetzt, aber im Vergleich zur DDR-Zeit beachtlich fortgeschritten. Technische Hilfsmittel auf einem weitaus höheren Niveau, mehr Medikamente stehen ihnen zur Verfügung. Ihre Wohnsituation hat sich – insgesamt gesehen – deutlich verbessert. Behinderte haben heute Interessenvertretungen, die hatten sie – von den Blinden und Gehörlosen abgesehen – in der DDR nicht. Die allermeisten betreuungsbedürftigen Schwerstbeschädigten leben heute in ihnen angemessenen Verhältnissen. Gab es damals ein staatliches Programm zur „Inklusion“? Nein, aber heute gibt es das. Kann man vor diesem Hintergrund sagen, dass die meisten, zumindest aber sehr viele Behinderte in den neuen Bundesländern sich nicht nur als Verlierer der Einheit fühlen, sondern es tatsächlich auch sind? In seinem neu erschienenen Buch Buch „Inklusion statt ‚Sorgenkind‘“ erhebt der Leipziger Autor Werner Wolff diesen Vorwurf. Als Betroffener und mit der Thematik Befasster listet er auf, was aus der Perspektive von körperlich Behinderten wesentlich ist im Vergleich DDR – Bundesrepublik Deutschland und auch im Vergleich zu dem, was sich seit 1990 in diesem Bereich vollzogen hat. Was eine Gesellschaft wert ist zeigt sich nicht zuletzt an ihrem Umgang mit den Schwachen.
Natürlich kann er nicht von der heutzutage üblichen Darstellung absehen, der zufolge Behinderte in der DDR „versteckt“, „nicht vorgesehen“ oder „eine Beleidigung für die SED“ (MDR) gewesen seien. Laut „Spiegel“ hat es „keinen Platz für Menschen mit Behinderung“ gegeben. Und mitunter wird sogar eine Nähe zur faschistischen Euthanasie-Gedanken angedeutet. Wolff spricht von einer „wahrheitsfernen Polemik“.
Der Verfasser, selbst Doktor der Physik und bis zum Eintritt in das Rentenalter 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Universitätsklinikum Leipzig, weist darauf hin, dass die Rechte Behinderter seit 1968 in der DDR Verfassungsrang besaßen (Artikel 36: Jeder Bürger der DDR hat das Recht auf Fürsorge der Gesellschaft im Alter und bei Invalidität“). Dies galt Jahrzehnte bevor sich der bundesdeutsche Staat ebenfalls dazu bequemte. Erst 1994 wurde im Grundgesetz der (gemessen an der heutigen Wirklichkeit seltsame) Satz aufgenommen: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ In Artikel 25 der DDR-Verfassung hieß es weiterhin: „Für Kinder und Erwachsene mit psychischen und physischen Schädigungen bestehen Sonderschul- und Ausbildungseinrichtungen.“ Auch für behinderte Menschen galt das in der Lebenspraxis durchgesetzte Verfassungsrecht auf Arbeit, ein für den Autor entscheidender Unterschied zur Situation nach 1990. Dagegen spiegelt heute beispielsweise die brandenburgische Landesverfassung ein „Recht auf Arbeit“ vor, das aber im Einzelfall nicht einklagbar ist. Behinderte genossen dem Autor zufolge in der DDR einen hohen Schutzstandard. Jeder, der dazu in der Lage war und dies wünschte, fand Arbeit, was die Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben bot. Natürlich immer, soweit dies der Charakter der Behinderung zuließ.
Rund 600.000 Behinderte arbeiteten laut Wolff 1989 in regulären Betrieben und Dienststellen der DDR. Stark leistungsgeminderte Menschen nutzten in diesen Einrichtungen geschützte Werkstätten. Und was heißt hier „nicht vorgesehen“? „Man traf sie auf Schulwegen unterwegs zur Arbeit oder zuhause. Und im Arbeitsleben sah man sie als Bibliothekare, Lehrer, Ingenieure, Justiziare, Handelskaufleute, Biologen, Direktoren. Man begegnete ihnen in Theatern, Kinos, Ausstellungen, Turnhallen und an Badestränden“ . Und dies ist dem Leipziger Fachmann wichtig: „Es gab in der DDR keine schwerbehinderten Sozialhilfeempfänger. Obdachlosen und Bettler.“ Von einer – natürlich teilweise subventionierten – Vollbeschäftigung ist auszugehen. (Was ja auch eine Teilantwort auf die Frage beinhaltet, was die DDR eigentlich mit ihrem Geld gemacht hat.) Gar nicht viele geistige Drehmomente sind nötig, um als Werner Wolff sachlich festzustellen: „So gesehen entsprachen die in den Produktionsbetrieben der DDR für diese Behindertengruppen geschaffenen geschützten Abteilungen und Einzelarbeitsplätze bereits vor über 40 Jahren jenem Inklusionsmodell, das Jahrzehnte später, 2008, in der UN-Behindertenrechtskonvention als weltweites Ziel vereinbart wurde.“
Diesen Schutz verloren ostdeutsche Behinderte mit dem Beitritt zur BRD, was Werner Wolff als Behindertenvertreter des Leipziger Universitätsklinikums und langjähriger Stellvertreter der Hauptschwerbehindertenvertretung am Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst bis 2007, in seinen Tätigkeiten erfahren musste. Was dann stattfand, war laut Autor „der Rückzug des Staates aus seiner bisherigen sozialen Zuständigkeit.“ Die unmittelbar einsetzende Massenarbeitslosigkeit schlug gerade über diese Menschen zusammen. Im Juni 1990 meldete die Statistik knapp 2.500 arbeitslose Behinderte, 1993 waren es fast 29.000. Nicht nur das. Wolff schreibt von einem „überproportionalen Austausch von Schwerbehinderten gegen Nichtbehinderte aus dem Westen.“ Er schildert einen Fall, bei dem ein schwerstbehinderter Mitarbeiter der Leipziger Arbeitsagentur so lange gezielt körperlich überlastet wurde, bis man ihm den (Roll-)Stuhl vor die Tür stellen konnte. Unter den Menschen, die nach Arbeitslosigkeit wieder eine Anstellung fanden, waren Behinderte „deutlich unterrepräsentiert“. Offen behinderten-feindliche Möglichkeiten im neuen Arbeitsrecht bildeten nach 1990 weitere Barrieren. Wolff zitiert aus einem Anstellungsvertrag: „Die Arbeitnehmerin versichert, dass sie zum Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte, nicht schwanger und 0 Prozent schwerbehindert ist.“ Eine Rückkehr ins Berufsleben erschien selbst jüngeren Behinderten zumeist aussichtslos. Es blieb einem großen Teil von ihnen nichts anderes übrig, als sich invalide schreiben zu lassen, was sie ausstieß aus der Gruppe jener Menschen, die für sich selbst sorgen konnten. Behinderte konnten nun ihre Interessenvertretungen wählen – diese Entwicklungen verhindern konnten sie aber nicht.
Während die volkseigenen Betriebe vor 1990 zur Aufnahme von 10 Prozent Versehrten verpflichtet waren (was den Anteil Behinderter in der Gesellschaft entspricht), wurde eine ähnlich lautende Vorschrift im 2002 novellierten Behindertenrecht der Bundesrepublik von 6 auf 5 Prozent abgesenkt. Keineswegs alle selbst staatlichen Stellen halten sich daran, sie nutzen lieber, wie die meisten übrigen Unternehmen auch, die Möglichkeit des Freikaufs. Mit dem so gewonnenen Geld werden dann Werkstätten finanziert, in denen die Behinderten separiert, abgeschoben und unter sich sind. „Alle noch so ideenreiche Bemühen um …diese Sonderwelten der Beschäftigung Behinderter zu verlassen, erwiesen sich als nahezu aussichtslos.“ Autor Wolff anerkennt die gegenwärtigen Versuche der schulischen Inklusion, d.h. des gemeinsamen Lernens von behinderten und nichtbehinderten Kindern, er kann aber nicht übersehen, dass es nach Abschluss der Schulausbildung damit auch wieder vorbei ist. Er zitiert eine Lehrerin aus Bremen, aus jenem Bundesland, das es auf dem Gebiet der Inklusion am weitesten gebracht hat: „Von der Werkstufe in den normalen Arbeitsmarkt hat es noch kein einziger Schüler geschafft.“
Der Autor dieser Rezension schrieb 1988 für eine SED-Bezirkszeitung eine Reportage über ein gemeinsames Ferienlager von behinderten und nicht-behinderten Kindern im brandenburgischen Prebelow. Er war einige Jahre zuvor als Schüler der Hennigsdorfer Erweiterten Oberschule „Alexander Puschkin“ dabei, als während eines FDJ-Jugendtreffen in Berlin Mitschüler der Behinderten-Schuleinrichtung in Birkenwerder abgeholt, während dieser Treffen betreut und auch wieder zurückgebracht wurden. Autor Wolff hatte bis 1966 diese Einrichtung als Schüler durchlaufen. Internatsunterbringung und Unterricht für Körperbehinderte fanden von 1951 an statt, ab 1953 wurden die Vorbereitungen dazu getroffen, dass dort auch das Abitur abgelegt werden konnte. Schon in schwersten Nachkriegsjahren vom SED-Staat betrieben wurde damit eine Einrichtung, die laut Wolff damals „weltweit ohne Beispiel“ gewesen ist. Anrührende Fotos aus dieser Zeit sind in seinem wichtigen Buch aufgenommen.
So wie nach der Wende die DDR-Kinderheime konsequent und ausschließlich unter dem Aspekt von Missbrauch, Demütigung und Vergewaltigung in den Medien vorgeführt wurden (und das nicht selten von Leuten aus dem Teil Deutschlands, in dem noch 35 Jahre lang auf Schulkinder eingeprügelt werden durfte), so können im Verständnis vieler Westdeutscher ja allenfalls kirchliche Einrichtungen im Gesundheits- und Sozialwesen der DDR Achtbares geleistet haben. Laut Wolff eine unzutreffende Darstellung, die den vielen Idealisten nicht gerecht wird, die den Umgang mit Behinderten in der DDR geprägt hatten, die den sozialistischen Ideen aufgeschlossen gegenüberstanden und in solchen Einrichtungen die Verwirklichung des sozialistisch-humanistischen Menschenbildes sahen. Dass immer noch Wünsche offenblieben, lag dem Autor zufolge an den ständig begrenzten materiellen Möglichkeiten, nicht aber am Willen der politisch und fachlich Verantwortlichen.
Aber zum Ideal gehörte eben auch die Wirklichkeit in all ihren Erscheinungen. Allein 1957 setzten sich 83 von 200 medizinische Mitarbeiter der Heilstätte/Klinik in Birkenwerder Richtung Westen ab. Sie ließen die ihnen anvertrauten behinderten Kinder im Stich, um sich selbst ein schöneres (v.a. natürlich einträglicheres) Leben zu machen.
Es ist hier wie sonst auch: Gerade dort, wo die Vorteile der DDR auf der Hand liegen, waltet die Aufarbeitungseinseitigkeit in besonderem Maße. Wie will man es sonst schönreden, dass durch diese Wende fast 4 Millionen Menschen ihre Arbeit verloren hatten, dass sich die Todeszahlen auf den Straßen vervielfacht hatte, dass die Geburtenrate auf ein Drittel sank, der jüngste Teil Deutschlands (der Osten nämlich) über Nacht zum ältesten wurde, dass Fauna und Flora im Osten in unbekanntem Maße verarmten? Durch den Beitritt zur BRD wurden homosexuelle Männer in Ostdeutschland wieder Straftäter und Behinderte wurden Sorgenkinder.
Das war so, weil es laut Autor Wolff gar nicht anders sein konnte.
Denn dieser Gesellschaftsbereich war „keine soziale Insel“, so dass auch die ostdeutschen Schwerbehinderten fortan medial den Stempel „Sorgenkind“ aufgedrückt bekamen. Also einen, den ihre Brüder und Schwestern im Westen schon lange zu tragen hatten. Nicht minder wichtig ist in seinem Buch der Vergleich, wovon der Blick geprägt war, den die beiden deutschen Gesellschaften auf die in ihnen lebenden Behinderten warfen. Wolff zieht ihn in aller Sachlichkeit, ausführlich und bis in die Briefmarkengestaltung hinein. Sein Fazit: In den Darstellungen und dem „Auftreten“ von Schwerbehinderten in den Medien sowie in Kunst und Kultur unterschieden sich die BRD und die DDR besonders deutlich.
Was galt für den Westen Deutschlands: Erst unter Kanzler Willy Brandt, d.h. nach 1969, wurden Behinderte auch dann als unterstützungswürdig eingeordnet, wenn sie nicht nur Kriegsinvalide, erblindet oder gehörlos waren; von diesem Zeitpunkt an wurde jede Schwerbehinderungsart berücksichtigt.(Das war eine Forderung, die in der DDR schon längst umgesetzt war.) Am Gesamtbild änderte das im Westen wenig. Wolff: „In einer Welt, geprägt von Vollkommenheitsdrang, Dopinggebrauch und Schönheitschirurgie, haben Menschen mit Behinderung wenig Platz. Es schafft zudem einen gesellschaftlichen Druck auf werdende Mütter in ihrer verständlichen Sorge um die Geburt eines gesunden ‚gesellschaftsfähigen‘ Babys.“ Das bildet den Hintergrund dafür, dass „Spiegel“-Macher solche „Witze“ in ihrem Blatt aufnehmen: „Exhibitionist zeigt sich vor Blindem“ oder „Blinder übersah Anhänger“. Der Buchautor führt eine Beispiel-Reihe von unfassbarer Rohheit und Niedertracht gegenüber Behinderten auf. Er schildert, wie Verachtung und Hass den Behinderten gegenüber im sich christlich verstehenden Westen schon in der Bibel geschürt und begründet wurden. Das bis heute nachwirkende antiquierte Mann-Frau-Rollenverständnis des Adenauer-Staates schlug ebenfalls durch und machte es behinderten Frauen noch einmal schwer.
In einer solchen Welt kann positiv nur eines funktionieren: Sentimentalität. Dazu kann sie sich gerade noch aufschwingen, vor allem dann, wenn sie mit Prestigegewinn einher geht. Und diese Sentimentalität war die Basis für die seit 1994 wichtigste Darstellung Behinderter in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik Deutschland: die „Aktion Sorgenkind“. 1964 bis 2000 wurde die Fernseh-Spendengala „Aktion Sorgenkind“ ausgestrahlt (seitdem „Aktion Mensch“), damals als Reaktion auf die seit 1957 über 5000 contergangeschädigt geborenen Kinder in der BRD. Vorbild dafür waren – wie konnte es anders sein? – die US-amerikanischen Wohltätigkeitsveranstaltungen, wo sich Reiche und Superreiche in Szene setzen können und Spenden abliefern, die ihren luxuriösen Lebensstil nicht im mindesten schmälern, die ihnen aber Image und Positiv-Werbung in beachtlichem Maße eintragen.
„Das westdeutsche Bild betonter Schicksalsschwere schwerbehinderten Daseins als ‚Sorgenkind‘ war in der DDR fremd bis unerwünscht“, hält Autor Wolff dagegen. DDR-Behinderte hatten ein staatlich garantierte Recht auf Förderung und waren „nicht auf die finanziellen Hochherzigkeiten aus teuer inszenierten Spenden-Animationen angewiesen.“ Heutige Vorwürfe, der Osten habe keine „Spendentradition“ entwickelt, gehen für ihn vor diesem Hintergrund ins Leere. Wenn der mediale Blick auf Behinderten ruhte, dann wurden sie „nicht als spezieller Kostenfaktor und gesellschaftliche Last markiert“. In Film, Fernsehen und Presse der DDR „erlebte man sie … natürlich, unspektakulär, ohne unnötige Leidensbetonung und oft in gemeinschaftshomogener Lebensdarstellung.“
Nun ist ja nicht alles schlecht und es hat sich tatsächlich einiges geändert seither – Wolff lobt den Mitteldeutschen Rundfunk für die Magazinsendung „Selbstbestimmt“, wo einmal im Monat 30 Minuten lang Behinderte wichtige Tipps und aktuelle Informationen bezogen auf ihre Lage bekommen und wo „respektvoll selbstbestimmt lebende Menschen mit Behinderung vorgestellt werden“. Aber graue Vorzeit ist das Elend auf diesem Gebiet noch lange nicht.
Wolff verweist auf das bezeichnende Beispiel des ZDF-Moderators Klaus Kleber, der es fertigbrachte, am 6. Mai 2016 das Ableben der langjährigen DDR-Volksbildungsministerin Margot Honecker mit dem Satz zu verkünden: „Heute ist ‚Miss Bildung‘ der DDR verstorben.“
Mal abgesehen davon, dass sich Häme beim Sterben eines Menschen verbietet, und man vielleicht nur bei Massenmördern wie Hitler oder Pol Pot eine Ausnahme machen sollte. Kleber nutzte hier die „Missbildung“, um dem DDR-Bildungswesen auf feinsinnige Weise Minderwertigkeit und Schlechtigkeit anzudichten. Dass damit auch auf seine Haltung gegenüber körperlich Versehrten geschlossen werden kann, wird er hinnehmen müssen. Mit der Polytechnischen Oberschule hat Margot Honecker den besten und modernsten Schultyp entwickelt, den es in Deutschland jemals gegeben hat. Pisa-Sieger wie Finnland haben ihn kopiert. Nach der Wende bekamen die Ostdeutschen die bundesdeutsche Beamtenschule übergeholfen, und die war ja nun das letzte, wovon sie 1989 geträumt hatten. Wolff hält fest: Noch 2003 „belegte der Genderreport die Überlegenheit des Bildungssystems der DDR auch im Falle der Sonderschulen für Behinderte“.
Einen Schwerbeschädigten-Ausweis stellte die DDR den 1,3 Millionen Betroffenen auf ihrem Staatsterritorium seit 1955 aus. Darin aufgeführt: Rechte, die dem Inhaber zustanden. Die Bundesrepublik schloss sich dieser Praxis 26 Jahre später an. Konkrete Hinweise zu Ansprüchen fehlen in ihrem Behindertenausweis. Dafür wird die Strafbarkeit des Missbrauchs angedroht. Laut Wolff ist diese Disziplinierung sein „auffälligstes Merkmal.“
Hat es damit sein Bewenden? Natürlich nicht. Das Buch stellt über das schon Gesagte eine reiche Materialsammlung zum Thema dar. Man erfährt, dass in der DDR bereits 1965 den Trabant P 601 Hycomat, ein Auto für Gehbehinderte, Rollstuhlfahrer und Beinamputierte, gebaut wurde, als in der BRD noch lange ernsthaft diskutiert wurde, ob Körperbehinderte überhaupt Auto fahren dürfen. Beleuchtet werden die Umstände der Abschaffung von Ferienlagern und der Kinder-und-Jugend-Spartakiade für Behinderte sowie die der Vereinigung der Versehrtensportverbände Ost und West. Form und Inhalt „wurden von den westdeutschen Funktionären diktiert“, schreibt Wolff. Der Umgang … sei von einem Ton bestimmt worden, den die Ostdeutschen als „Wehrmachtsjargon“ erlebten, “denn die westdeutschen Vertreter verstanden sich als stolze, versehrte Kriegsveteranen, die bis heute (gefühlt) nicht kapituliert haben.“
Geschildert werden die Umstände der fürchterlichen Contergan-Affäre, wie auch der unterschiedliche Umgang beider deutscher Staaten mit der Krankheit Kinderlähmung. Der stellvertretende Ministerpräsident der DDR Willy Stoph (SED) hatte der Bundesrepublik 3 Millionen Schluckimpfungen angeboten. Kanzler Konrad Adenauer (CDU) lehnte ab, was mit dazu beitrug, dass die Bundesrepublik die höchste Polio-Rate in Europa aufwies. 1961 erlitten noch einmal rund 3.300 Kinder diese Krankheit, von denen 275 starben. Wolff vergisst auch nicht die Rolle eines bundesdeutschen Unternehmens bei der Produktion des Entlaubungsmittels Agent Orange, das die USA bei ihrer zutiefst verbrecherischen Kriegsführung in Vietnam massenhaft einsetzten. Dieser westdeutsche Beitrag bestand im Export des toxischen Wirkstoffs Dioxin TCDD durch die Boehringer-Werke. Er weist dem deutschen West-Staat eine Mitschuld daran zu, dass bis zum heutigen Tag hunderttausende missgebildete Kinder in diesem südostasiatischen Land zur Welt kamen und kommen und schließt: „Man stelle sich das mediale Geschrei vor, wären Russland oder China die Verursacher.“
Ebenfalls nicht vergessen hat der Verfasser den Unterschied beim Umgang der beiden deutschen Staaten mit den faschistischen Euthanasie-Verbrechen, mit der Ermordung von über 250.000 Menschen, die von den Nazis als „unwertes Leben“ eingestuft wurden. („T-4-Aktion“). Gegenübergestellt wird in seinem Buch die Strafverfolgung in der SBZ/DDR und die (faktische) Amnestie für Täter in der BRD. Es ist unfassbar, was der Rechtsstaat (die bundesdeutschen Gutachter und Gerichte auf verschiedenen Ebenen) sich als Begründung dafür ausdachte, an diesen Morden Beteiligte gerade nicht zu belangen und ihnen noch ehrenwerte Gesinnung zu bescheinigen. Kein Wunder, dass jede Menge schuldbewusster T-4-Täter, die auf ostdeutschem Gebiet lebten, alsbald in den für sie sicheren Hafen Westdeutschland flohen. Staatsanwalt Fritz Bauer war der Einzige, der bemüht war, wirkungsvoll gegen einen Teil der Verbrecher vorzugehen. Sein mysteriöser Tod 1968 haben das unterbrochen, schreibt Wolff. Zwei Jahre später wurden alle Verfahren eingestellt. Wer sein Buch zur Hand nimmt, der entgeht auch nicht einer Parade von Euthanasie-Mördern, die das Bundesverdienstkreuz überreicht bekamen. Nicht einmal das ersparte die westdeutsche Demokratie den Opfern und ihren Angehörigen. Natürlich passt in dieses Bild, dass westdeutsche Juristen nach 1990 in den neuen Ländern das taten, was sie in ihrer westdeutschen Heimat tunlichst unterließen: sich förmlich zu überschlagen, um nachzuweisen, dass die DDR den Euthanasie-Verbrechern Unterschlupf und Schutz gewährte: Werner Wolff: „Sie fanden nicht einen einzige Fall, der nicht geahndet worden wäre.“
Des ungeachtet meint der Verfasser, dass auch die DDR-Behörden in dieser Sache mehr Engagement hätten zeigen können. Die Flucht von abertausenden Ärzten in den Westen und die daraus resultierende schwierige Lage des DDR-Gesundheitswesens haben ihm zufolge hier möglicherweise bremsend gewirkt.
Der Philosoph Ernst Bloch bezeichnete das Bundesverdienstkreuz als „unannehmbar“, angesichts der Vielzahl der „Schandpersonen“, die sich mit diesem Kreuz schmücken können. Gemeint war, dass sich alte Nazis dieses Kreuz gegenseitig an die Brust geheftet hatten. Das könnte vielleicht für ostdeutsche Träger dieses Kreuzes Anlass sein, darüber einmal nachzudenken und zumindest zu fordern, dass den schlimmsten Verbrechern dieser Orden postum entzogen wird. Auch John Lennon hat seine staatlichen Auszeichnungen der Queen zurückgeschickt, um gegen die Beteiligung Großbritanniens an den Vietnamkrieg-Verbrechen zu protestieren.
Ist die in der DDR übliche Meldepflicht für Behinderte eine Rechtfertigung dafür, sie in die Nähe der Nazis zu rücken? Denn in der Bundesrepublik gab es diese Pflicht wohlweislich nicht. Für den Buchautoren Wolff ist in der DDR-Praxis ein vormundschaftlicher Anspruch unverkennbar, es überwiegen aus seiner Sicht jedoch die Vorteile. Denn mit der Meldepflicht war gleichzeitig die Information über Anrechte auf Förderung verbunden, während in Westdeutschland viele Eltern mit ihrem behinderten Kind allein gelassen worden seien. Der bis zum Schluss in der DDR durchgehaltenen Begriff der „Schwerbeschädigten“ ist aus Sicht von Wolff falsch gewesen und nicht zu befürworten.
Wolff ist kein Freund von sprachlichen Verrenkungen, wie sie sich im Zuge neuster Moden in die heutige Debatte eingeschlichen haben. So gut gemeint sie mitunter auch seien. Wer das „verhaltensgestört“ beispielsweise durch das „verhaltensoriginell“ ersetzen möchte, der tut ihm zufolge so, als handle es sich um eine erfreuliche, wünschenswerte Eigenheit. „Damit wäre diesem Kind nicht geholfen.“ Auch der Anspruch, behinderte Kinder in „Normalschulen“ zu unterrichten, sollte ihm zufolge vernünftige Grenzen kennen. Denn wer das verabsolutiere, „vernachlässigt das stärker individuell Bildungsdienliche einer Förderschule und überschätzt wohl auch die seelische Robustheit und das Selbstbewusstsein vieler vor allem geistig Behinderter, um trotz Kränkungen und Mobbing gern täglich die Inklusionsschule, den Ort ihrer Kränkungen, zu besuchen.“
Das Buch von Werner Wolff in einer Sachlichkeit abgefasst, die vielleicht das beste Erbe der DDR ist. Es ist eine Aufforderung, selbstgerechtes Pharisäertum als solches zu kennzeichnen und einen Vorgang, der in diesem Land „Aufarbeitung der DDR-Geschichte“ genannt wird, endlich so auszugestalten, dass er diese Bezeichnung auch verdient.
Werner Wolff, Inklusion statt „Sorgenkind“. Schwerbehinderte in der DDR, mit Vergleichen zur BRD, NORA Verlagsgemeinschaft, 188 S. ISBN 978-3-86557-499-2, 18 Euro.