„War die DDR vielleicht doch das bessere Deutschland?“
Von Matthias Krauß, leicht überarbeiteter Vortrag, gehalten auf einer Veranstaltung der Hellen Panke in Berlin am 26. Oktober 2021
Sehr geehrte Damen und Herren, natürlich sitze ich als Glückspilz vor Ihnen. Denn nicht allein, dass sich mich hier öffentlich und vor Ihnen verbreiten darf, ich kann das auch noch zum besten und leichtesten Thema des Abends: War die DDR das bessere Deutschland?
Nichts leichter als die Antwort auf diese Frage. Blicken wir auf die Bilanz der Olympischen Spiele von 1988 in Seoul. Die DDR hatte in der Medaillenausbeute die USA auf Platz drei verwiesen, im Ländervergleich rangierte sie auf dem zweiten Platz hinter der Sowjetunion. Sie war also im Vergleich mit der Olympiamannschaft der Bundesrepublik zweifellos das bessere Deutschland. Was das bedeutet hatte, wird im Vergleich auch mit den jüngsten Olympischen Spielen von Tokio sichtbar: Die gesamtdeutsche Mannschaft dümpelte dahin unter „ferner liefen“. Mit dem Leistungssport ist es seit dem Ende der DDR bergab gegangen, auch mit dem Volkssport. Das Pflichtfach Sport, wie es zu jedem Direktstudium der DDR gehört hatte, ist abgeschafft worden. Angebot und Beteiligung an Sportklubs, Sportgemeinschaften sind auch 30 Jahre nach der „Wende“ in Ostdeutschland deutlich geringer als in den so genannten alten Bundesländern. Der deutsche Osten war 1988 auf dem Sprung dorthin, stärkste Sportmacht des gesamten Universums zu werden und ist inzwischen der unsportlichste Teil Deutschlands.
Foto: 1986 – Solidaritätsaktion im Innenhof der Karl-Marx-Universität Leipzig
Nun ja, Einwände sind vorauszuberechnen – es sei ja nur das Doping gewesen, was der DDR ihre sportlichen Erfolge beschert habe (und nicht etwa eine sportliche Breitenbewegung und -entwicklung, die alles in den Schatten stellt, was wir seither erleben.) Aber es stimmt schon, es wäre kindisch, allein den Sport als das Kriterium gelten zu lassen, wenn wir uns der Frage zuwenden wollen, ob die DDR das bessere Deutschland gewesen ist.
Ist nun die Antwort darauf also vielleicht doch nicht so leicht? Die DDR hat die Bundesrepublik nicht nur beim Leistungssport in den Schatten gestellt. Sie hat auch das Prügeln der Kinder in der Schule verboten, während in der deutschen Nachkriegsdemokratie noch 30 Jahre lang auf Schülerinnen und Schüler eingeschlagen werden durfte. In den zehn Jahren vor der Wende kamen in Ostdeutschland eine Million Kinder mehr zur Welt als in den zehn Jahren danach. 1990 war der Osten der jüngste Teil Deutschlands. Und wurde danach mir rasender Geschwindigkeit der älteste Teil. Die psychischen Erkrankungen der Schulkinder haben sich seit der Wende vervierfacht. Offenbar sind wir von einer gesunden Gesellschaft in eine kranke geraten. War die DDR also das bessere Deutschland?
Vor einigen Wochen beschloss der Bundestag, dass ab 2026 alle Kinder in Deutschland bis zum Beginn der 5. Klassenstufe das Recht auf eine kostenlose Nachmittagsbetreuung haben sollen. Was keine Partei in diesem Zusammenhang erwähnt hatte: Dieses Recht besaßen alle DDR-Kinder bis 1990. Ein Institut der Leipziger Universität veröffentlichte vor wenigen Tagen ein für die Wissenschaftler selbst überraschendes Forschungsergebnis: Die Wahrscheinlichkeit, Opfer von Vernachlässigung, Gewalt oder Missbrauch zu werden, war in der demokratischen Bundesrepublik deutlich höher als in der diktatorischen DDR. Aber war die DDR deshalb das bessere Deutschland?
1990 hatten mehr als 90 Prozent der Frauen in der DDR zwischen 25 und 60 Jahren eine Berufsausbildung, ein absolviertes Fachschulstudium oder ein abgeschlossenes Hochschulstudium. Das traf zu diesem Zeitpunkt auf allerhöchstens 35 Prozent der BRD-Frauen zu. Der Richter-Beruf, der Lehrer-Beruf waren in der DDR Frauenberufe. Die Gleichberechtigung der Frau in der Ehe war für die DDR-Frauen von Anfang an durchgesetzt, auch ihre Selbstbestimmung über die eigene Berufstätigkeit und die Verfügungskraft über ihr Einkommen. Auf all dies mussten die westdeutschen Frauen noch Jahrzehnte warten. War die DDR also das bessere Deutschland?
Zu den größten Verbrechen des 20. Jahrhunderts gehören die Kriege der Franzosen und US-Amerikaner in Indochina/Vietnam. Dabei kam 3,5 Millionen Zivilisten ums Leben, darunter eine halbe Million Vietnamesenkinder. Die DDR stand auf seiten dieser Kinder, die Bundesrepublik war auf der Seite ihrer Mörder. War die DDR also im Wahrheit das bessere Deutschland?
Die Armee der DDR, die Nationale Volksarmee, war die einzige deutsche Armee seit Karl dem Großen, die keinen Krieg begonnen hat. Die Vereinten Nationen haben die DDR zu den zehn Staaten mit der geringsten Kriminalitätsbelastung der Erde gezählt. Die Wahrscheinlichkeit, sein Leben durch Mord oder Totschlag zu verlieren, war in der demokratischen Bundesrepublik doppelt bis dreimal höher als in der diktatorischen DDR. Nochmal die Frage: War die DDR das bessere Deutschland?
Die DDR hatte ein Recht auf Arbeit und damit eine Vollbeschäftigung als Individualrecht ihrer Bürgerinnen und Bürger. Sie hatte – im Unterschied zur heutigen Situation – ein umfassendes Arbeitsgesetzbuch und für die Kinder der Beschäftigten rund 5000 Kinderferienlager. Fast alle dieser Lager wurden in den zwei Jahren nach der Wende aufgelöst. War die DDR also vielleicht doch das bessere Deutschland?
Die letzte Partei, die sich in meiner Heimatstadt Potsdam um den Neubau von Sozialwohnungen gekümmert hat, war die SED, d. h. die Staatspartei der DDR. Im Jahr des Zusammenbruchs, also 1989, wurden in dieser Stadt knapp 1000 neue und bezahlbare Wohnungen an ihre Mieter übergeben. Seither wurden neue Wohnungen nicht für einfache, sondern für reiche Menschen gebaut. Das ist nirgends in den neuen Bundesländern tatsächlich anders gewesen. Muss man die DDR aus diesem Grund das bessere Deutschland nennen?
Allein in Potsdam sind heute 600 Rechtsanwälte tätig, das sind über 100 mehr als in der gesamten DDR an Anwälten zugelassen waren. Das Leben in der DDR kam also praktisch ohne diese letztlich unproduktive riesige Masse an Juristen aus, die wir heute zu ernähren haben. Verständlichkeit auch für den Laien zeichnete ihre Gesetzgebung aus. Schiedskommissionen und gesellschaftliche Gremien auf unterer Ebene trugen das Ihre dazu bei, Konflikte im DDR-Leben zu de-kriminalisieren. War die DDR vielleicht vor diesem Hintergrund das bessere Deutschland?
Die DDR hatte allen Direktstudierenden ein Stipendium gewährt, das die Deckung solcher Grundbedürfnisse wie Wohnen, Essen, Heimreise, ja auch den Kino- und Kneipenbesuch ermöglichte. Sie hat am Ende sogar den Schülern der 11. und 12. Klasse eine monatliche Summe gewährt, die dem Lehrlingsgeld entsprach. Medikamentenzuzahlungen waren unbekannt und Brillen konnte man sich auf Kosten der Sozialversicherung anfertigen lassen. Bietet das Antworten auf die Frage, ob die DDR das bessere Deutschland gewesen ist?
In der DDR entwickelte sich ein ungezwungenes Verhältnis zum menschlichen Körper, selbst die Unterscheidung FKK-Textilstrand verschwand am Ende, weil jeder diesbezüglich überall machen konnte, was er wollte. Danach hat sich in Ostdeutschland eine Gesellschaft breitgemacht, in der Prüderie und Pornografie Arm in Arm durchs Leben gehen. War die DDR auch unter diesem Blickwinkel das bessere Deutschland?
Auf diese wichtige Frage wird es unterschiedliche Antworten geben. Das sieht der vor 25 Jahre verbeamtete Lehrer wahrscheinlich anders als der nach 1990 abgewickelte Akademiewissenschaftler oder Industriewissenschaftler, der nie wieder eine Anstellung fand. Weil man ja auch ganz andere Beispiele aufzählen und eine ganz andere Bilanz aufmachen kann, überlasse ich hiermit jeder und jedem, die persönliche Antwort darauf zu finden. Eine wesentliche Antwort aber will ich dennoch geben: Die DDR war vor allem und in erster Linie das andere Deutschland. Sie war das Andere. Und das macht sie so besonders und den Hass auf sie so glaubwürdig.
Deutsches Kaiserreich, Weimarer Republik, NS-Diktatur und Adenauer-Staat – was hatten sie gemeinsam? Das Entscheidende. Das waren alles Varianten der bürgerlichen Herrschaft, das waren – einer wie die andere – kapitalistische Geldherrschaften. Und die Sozialstruktur blieb auch bei den Übergängen – mit geringfügigen partiellen Verschiebungen – die gleiche. Die traditionellen und überkommenen Machteliten (Geldadel, Adel, Kirchen, Beamtentum, Richterkaste, Auswärtiges Amt, Offizierskorps) blieben immer erhalten, schwammen immer oben und erneuerten sich aus sich selbst heraus. So beim Wechsel vom Kaiserreich hin zur Republik (mit wenigen Abstrichen für den Adel). Die Privilegien der genannten Elite-Kasten wurden von Adolf Hitler sämtlichst bestätigt (wenn sie nicht gerade Juden waren) und wenn sie bereit waren, ein wenig zusammenzurücken, um die neue Nazi-Oligarchie mit an die Krippen zu lassen. Derart „gereinigt“ übernahm die westdeutsche Nachkriegs-Demokratie diese Eliten: Hitlers Generale wurden Adenauers Generale, Hitlers Diplomaten wurden Adenauers Diplomaten, Hitlers Richter wurden Adenauers Richter, Hitlers Staatssekretäre wurden Adenauers Staatssekretäre, Hitlers Lehrer und Hochschullehrer wurden Adenauers Lehrer und Hochschullehrer. Und die Bischöfe beider großen Konfessionen blieben auch was sie waren, aller bestürzenden Nähe zum Nazi-Staat zum Trotz.
Und dieses Bild bot die DDR eben nicht. Das macht sie so einmalig. Auf ihrem Territorium hatten die traditionellen, die blutbesudelten und schuldbeladenen deutschen Machteliten, die im 20. Jahrhundert zweimal so schrecklich das Unglück waren für Deutschland, Europa und die Welt, 45 Jahre lang nichts zu melden – sieht man von den zweifellos auch in der DDR existierenden Kirchen ab. (Als Körperschaften existierten sie weiter, hatten auch Einfluss, einen bestimmenden Einfluss auf die Regierung hatten sie dort aber nicht.) Diese Ausschluss von der Macht, den die traditionellen Eliten auf einem Drittel des deutschen Territoriums hatten hinnehmen müssen und das fast ein halbes Jahrhundert lang, ist der eigentliche Sündenfall dieses Staates. Deshalb die heutige Abrechnung durch eine mit Millionen gespickte Aufarbeitungsindustrie. Deshalb ist der Hass auf die DDR so echt und so grundsätzlich. Und so endlos.