DDR-Weihnachtslieder und der Kampf gegen den Imperialismus
An: Alexander Lasch, Professor für Germanistische Linguistik und Sprachgeschichte an der TU Dresden
Von: Matthias Krauß, Potsdam
Sehr geehrter Herr Professor Lasch,
mit dem zeitlichen Abstand zum Ende der DDR wächst der Unterhaltungswert der öffentlichen Äußerungen über sie. Nun wäre es vergebliche Liebesmüh, allem hinterher wischen zu wollen, was an Ungenauigkeit oder auch Unsinnigkeit da verbreitet wird, wer sich das vornähme, hätte zu nichts anderem mehr Zeit. Auf das Interview, das Sie vor einigen Tagen dem MDR gegeben haben, möchte ich dennoch eingehen und sogar ausführlich, denn es erscheint mir exemplarisch und vom Thema her zu schön, als dass man diese Blume am Wegesrand nicht betrachten und vielleicht auch pflücken sollte.
Sie befassen sich also mit „versteckten Botschaften, die in DDR-Weihnachtsliedern stecken“. Ich weiß, das ist eine Formulierung des Senders selbst, und wenn die Journalistin einleitend davon erzählt, dass man sich in diesem Zusammenhang an die „geflügelte Jahresendfigur“ erinnert, so ist das ebenfalls nicht Ihre Idee gewesen, Herr Lasch. „Erinnern“ können sich daran allenfalls Westdeutsche oder Menschen, die gläubig unter deren geistigen Einfluss geraten sind. Ich habe diese Formulierung in den 28 Jahren meiner DDR-Existenz dort jedenfalls nicht vernommen und meine Freunde, Bekannten und Kollegen auch nicht. Der Weihnachtsengel, er lebe hoch.
Zunächst danke ich Ihnen für Einblicke, die mir neu und wichtig waren: Dass es sich bei „Sind die Lichter angezündet“, „Vorfreude, schönste Freude“ und „Bald nun ist Weihnachtszeit“ um spezifische DDR-Schöpfungen handelt, die im Westen unseres vereinigten Vaterlands quasi unbekannt sind, war mir gar nicht bewusst. Und Sie zollen dem Vorgang ja insofern Respekt, als sie an der musikalischen und textlichen Qualität keinen Zweifel lassen. Ihnen zufolge hat die DDR „die besten Komponisten“ zu diesem Zwecke engagiert. Im Falle von „Bald nun ist Weihnachtszeit“ irren Sie sich möglicherweise, dessen Urheberschaft wird bei Wikipedia einem gewissen Wolfgang Stumme zugeordnet, seines Zeichens Funktionär der Hitlerjugend und Leiter der Abteilung Musik im Kulturamt der Reichsjugendführung. Damit hat er sich sozusagen unsterblich gemacht.
Aber es tauchen auch andere Fragen auf. Denn – wie so oft bei der zeitgenössischen „Aufarbeitung“ – es fehlt in Ihrer Darstellung das Subjekt der Handlung. „Die DDR“ habe dies oder auch jenes getan oder auch „man“ habe es in der DDR getan. Nur – „die DDR“ hat gar nichts veranlasst, das waren Personen oder Gremien in ihr, und wer versteckt sich nun dahinter? Staatsratsvorsitzender Walter Ulbricht? Oder hat Staatspräsident Wilhelm Pieck Komponisten damit beauftragt, subversive Weihnachtlieder zu verfassen, mittels derer „man“ mit „langem Atem so eine Ablösung von der christlichen Tradition“ erreichen könnte (so Ihre Formulierung)? Verging sich hier Margot Honecker, seinerzeit Vorsitzende der Pionierorganisation? Oder die Kulturkommission des Deutschen Turn- und Sportbundes der DDR? Wer, Herr Lasch, soll das getan haben?
Sie wendeten sich dem Inhalt dieser Lieder zu und wurden fündig: „Die Vorfreude, die Freude und der Frieden rücken in den Mittelpunkt. Aber damit ist nicht der christliche Weihnachtsfriede gemeint, sondern der gegen den Imperialismus zu verteidigende.“ Und, ja, Herr Lasch, man darf den bösen Kommunisten nichts schenken: „Bei den Kindern anzusetzen, ist dabei das allergeschickteste.“ Also ein teuflischer-perfider Plan das Ganze? Schon der Dresdner Sprachforscher Victor Klemperer sprach bezogen auf die Sprache des Dritten Reiches von winzigen Dosen, die eingenommen werden, aber natürlich am Ende ihre Wirkung nicht verfehlen. Sie, Herr Professor, schildern den Prozess auch technisch: „Das ist ja der Witz daran, es geht um den Transport von Leitvokabeln. Daneben bleibt man herrlich diffus und ambivalent.“
Nun ja, ich weiß nicht, ob die „Leitvokabeln“ der anderen, also der christlichen Lieder weniger diffus oder ambivalent sind. Nur, und jetzt muss ich Sie um Verzeihung bitten, Herr Lasch, in den angeführten Weihnachtsliedern einen Aufruf zum Kampf gegen den Imperialismus zu sehen, ist vollkommen absurd. Wo soll ein solcher Aufruf denn nun noch zu entdecken sein? In den Kochbüchern? Es gibt niemanden, den diese Lieder mit dem Kampfeswillen gegen den Imperialismus ausgestattet hätten, ja der auch nur in Entferntesten auf den Gedanken hätte kommen können, dass es ihn diesbezüglich inspirieren sollte. Eine junge Spanierin äußerte mir gegenüber vor einiger Zeit, das Lied „Sind die Lichter angezündet“ habe sie erstmals in Ostdeutschland gehört und es sei für sie das schönste deutsche Weihnachtslied. Aus dem Blickwinkel Ihrer Betrachtung, Herr Lasch, müsste man sich Sorgen machen. Hält die versteckte Wirkung an? Ist diese junge Frau das bedauernswerte Opfer einer besonders raffinierten Form der SED-Propaganda? Wurde sie zum Kampf gegen den Imperialismus (heutzutage besser bekannt als „freier und demokratischer Westen“) aufgestachelt? Oder ist das alles einfach nur Unfug?
Denn warum wollen Sie eigentlich Nicht-Christen auf das Christentum oder christliche Lieder verpflichten? Man kann es auch nüchtern sagen. Die DDR-Gesellschaft ist zunehmend auf Distanz zur christlichen Religion gegangen, wollte aber Weihnachten feiern. Dass neue Lieder nicht nur sehr gut, sondern weniger christlich waren, kam diesem, von der führenden Partei zweifellos betriebenen Vorgang natürlich entgegen. Fand aber in dieser Form eher keine Beachtung. Mit ihrem Plan, den Menschen die Kirchen abspenstig zu machen, kam die SED weit, aber nicht unendlich weit. Noch Ende der 80er Jahre konnten die Kirchen in ihren Verhandlungen mit dem DDR-Staat auf 5,3 Millionen Mitglieder verweisen. (Einer von denen schreibt Ihnen gerade.) Was allerdings Westdeutsche an dieser Stelle regelmäßig unterschlagen: Auch die bundesdeutsche Gesellschaft ging und geht seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs mehr und mehr auf Abstand zur christlichen Religion. Das vollzieht sich ohne staatlichen Beistand und etwas weniger schnell. Aber die Richtung der Bewegung ist die gleiche, das ist entscheidend. Könnte man nicht schließen, dass die SED entschlossen betrieb, was ohnehin historisch auf der Tagesordnung stand? Zumal der ganz große Absturz in Ostdeutschland nach 1990 einsetzte und die Kirchen heute nur noch auf halb so viele Mitglieder verweisen können wie zur DDR-Zeit.
Sie, Herr Lasch, meinen anklagend, dass sich in den DDR-Weihnachtsliedern der christliche Gehalt nicht mehr wiederfinde und sprechen von einer „ominösen Lichtquelle, die zwar um die Welt leuchtet und den Frieden und die Freude überall hinbringt, aber das ist nicht mehr das christliche Weihnachtslicht, was da leuchtet.“
Wenn es so wäre, dann würde der Vorgang dem Vorgehen der Christen vor anderthalb Jahrtausenden gleichen, die sich auch der keltisch-germanischen Sonnenwendfeiern bedienten und daraus das christliche Weihnachtsfest schufen. Die Form des heidnische Festes also gleichsam mit neuen Inhalten befüllten.
Nun können Künstler allenfalls bedingt etwas dafür, was man alles in ihre Kunstwerke hineindeutelt. Aber nehmen wir einmal an, es würde sich bei den DDR-Weihnachtsliedern tatsächlich um eine zielbewusste Umwandlung der Weihnachtsbotschaft gehandelt haben. Dann gestatten Sie mir den Hinweis, dass es sich dabei um einen kulturellen und menschlichen Gewinn handeln müsste. Denn die Ihnen teure christliche Weihnachtsbotschaft, „die sich still unter den Menschen ausbreitet“ (oder vielleicht doch etwas lauter mittels Liedern und Predigten), wendet sich keineswegs an alle Welt, der Kreis der Adressaten dieser Botschaft ist reduziert auf die „Menschen, die guten Willens sind“. Wir wissen, wer hier die Einteilung vornimmt. Eine solche Einschränkungen gibt es bei der Botschaft der DDR-Weihnachtslieder übrigens nicht. Sie wendet sich an „jedes Kind in jedem Land“. Das findet seine Entsprechung übrigens in den Zehn Geboten der Jungen Pioniere, wie ich meiner seither aufbewahrten Mitgliedskarte entnehmen kann: „Wir Jungpioniere halten Freundschaft mit den Kinder der Sowjetunion und aller Länder“.
Die Melodie zu „Vorfreude schönste Freude“ hat hat Hans Naumilkat komponiert. Sie vergessen in Ihrem Interview nicht, dass man ihn auch von Liedern wie „Fröhlich sein und singen“ oder „Soldaten sind vorbeimarschiert“ her kennen würde. Ich ergänze mal: „Soldaten sind vorbeimarschiert in gleichem Schritt und Tritt. Wir Pioniere kennen sie und laufen fröhlich mit.“ Da ist natürlich das Käufliche des Subjektes herausgearbeitet und völlig unangemessen der Hinweis, dass in der Zeit, als diese Lieder entstanden, die Heere des freien und demokratischen Westens im Kongo, in Kenia, Rhodesien, Indochina und Algerien nicht etwa vorbeimarschierten, sondern Millionen um ihre nationale Freiheit kämpfenden Menschen töteten. In Indochina waren zehntausende Deutsche in der Uniform der Fremdenlegion dabei, in Algerien waren es bloß noch tausende. Im Zuge dieses freiheitlich-demokratischen, französisch-deutschen Joint-Ventures haben deutsche Soldaten mindestens 300.000 Menschen getötet, so die Berechnungen der DDR. Angaben der Bundesrepublik Deutschland habe ich dazu leider nicht gefunden, vielleicht können Sie mir dabei behilflich sein, Herr Lasch. Alsbald wechselte die Unterstützung der westdeutschen Demokratie auf die Amerikaner, die in Vietnam eine halbe Million Kinder umbrachten. Man kann heute in Saigon die Kirchen besuchen, in denen die Bischöfe der beiden großen christlichen Konfessionen die Mörder auch noch anfeuerten. Wenn – vor diesem Hintergrund – in DDR-Weihnachtliedern (oder auch in anderen ihrer Lieder) die Untaten des Imperialismus gegeißelt worden wären, hätte man es weder Auftraggebern noch Schöpfern verübeln können. Auch im Rückblick nicht. Können Sie sich vorstellen, Herr Lasch, wie deutsche Professoren heute über die DDR herfallen würden, wenn man ihrem Sozialismus die Beteiligung an auch nur einem Verbrechen dieses Formats nachweisen könnte?
Aber sie fallen auch so genügend über die DDR her. Denn man sieht gern den Splitter im Auge des Nachbarn und den Balken im eigenen nicht. Ein gutes und gesundes neues Jahr wünscht Ihnen
Matthias Krauß