Danilo

Die ukrainische „Fledermaus“

Lviv/Lemberg – Stadtbild und Reportage von 2018

Das ukrainische Lviv (Lemberg) und die asiatische Millionenstadt Singapur haben dies gemeinsam: Beide sind sie nach dem Löwen benannt. Im historischen Zentrum von Lviv, das zu sowjetischen Zeiten Lwow hieß und im Westen der Ukraine liegt, begegnet dem Besucher das Wappentier auf Schritt und Tritt. Doch nicht allein deswegen ist Lviv ein anregendes Besuchsziel.

Foto: König Danilo gilt als Gründer der Ukraine 


Der historische Kern der einstigen Hauptstadt von Galizien, das vor über 100 Jahren noch „österreichisch Polen“ hieß, ist schmuck restauriert, nicht ohne auch verfallende hintere Ecken aufzuweisen. Aber hier spreizt sich vielleicht auch ein deutscher Anspruch, es ist eben nicht unnatürlich, dass Städte neben neuen auch ältere Elemente aufweisen und man es denen auch ansehen kann. Lviv ist so groß wie Leipzig. Die eigentliche Stadt lässt sich von einer bewaldeten Anhöhe überblicken, die der Stadtführer „Kaiserwald“ nennt. Geprägt ist die siebentgrößte Stadt der Ukraine in ihren Außengebieten von den sozialistischen Plattenbauten, die immer wieder ein so intensives westdeutsches Naserümpfen hervorrufen. Nur – es ist wie überall im Osten – der soziale Wohnungsbau hat seit knapp 30 Jahren dort nicht mehr stattgefunden, das schick hergerichtete historische Zentrum kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Mittel für umfassende Sanierung, geschweige denn Erweiterung des städtischen Wohnungsbestandes fehlen. Sieht man ab von hier und da emporgeschossenen Apartment- und Loftwohnungs-Glanzpunkten, in denen sich die finanzstarke neue Oberschicht eingerichtet hat.
 
„Cabinet“ heißt das Literaturcafè, das von der Ringsstraße aus auf die Altstadt blickt. Es ist auf Italienisch getrimmt, was einigermaßen lustig ist, den „Cabinet“ ist im Italienischen eine Umschreibung für Toilette. Aus dem Bücherregal kann eine ukrainische Ausgabe des „Schwejk“-Romans von Jaroslaw Hasek gezogen werden. Der Roman spielt in seiner letzten Phase tatsächlich hierzulande, d.h. in Galizien. Unweit vom Cafè, vor der Gaststätte „Bruderschaft“ (gleichwohl in ukrainischen Buchstaben), steht eine Art Schwejk in der Montur der k. u. k. Armee und bittet die touristischen Passanten zu Tisch. Im „Schwejk“ kommen die damaligen Konflikte zwischen Deutschen und Ukrainern (Ruthenen) aber auch die zwischen Polen und Ukrainern zur Sprache. Lviv gehörte Jahrhunderte lang zum polnischen Königreich, es fiel Ende des 18. Jahrhunderts mit der dritten Teilung Polens an Österreich, dem es bis 1918 zugehörte. Das waren die Jahrzehnte, in denen die repräsentativen Bauten der Stadtmitte entstanden. Sie bilden eine Kulisse für den Roman „Radetzkymarsch“ von Joseph Roth. Danach war die Stadt 21 Jahre lang polnisch, bis sie durch den Hitler-Stalin-Pakt zum sowjetischen Interessengebiet erklärt und nach der ultra-terroristischen deutschen Besatzungszeit der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik zugeordnet worden war. Nachdem Stalin-Nachfolger Nikita Chrustschow auch noch das Dongebiet und die Krim dieser Sowjetrepublik zugeschlagen hatte, entstand ein riesengroßes Verwaltungsgebiet, das nach 1992 ein Staatsgebiet geworden ist.
 
Für deutsche Besucher angenehm – der Bierpreis im historischen Zentrum von Lviv schwankt – umgerechnet – um einen Euro, Speisen in gepflegten Restaurants sind vergleichsweise billig. Das Wort „Museum“ begegnet ihm auf Schritt und Tritt. Man sollte das nicht allzu wörtlich nehmen – oft verbirgt sich dahinter eine Verkaufsausstellung. Gewöhnen muss man sich an den sanitären Unisex-Standard, Männer und Frauen gehen also aufs gleiche Klo. Dies hat sich als Gemeinsamkeit durchgesetzt, sonst aber: Zerrissenheit, Friktionen, Spannungen der Jetztzeit wirken sich auch an diesem Ort aus. „Wollen Sie Toilettenpapier kaufen mit Putin drauf“, wird der Besucher unvermittelt auf dem Marktplatz gefragt. Das Porträt des russischen Staatschefs ist auch auf Fußabtretern zu sehen. Der Lviv-Besucher des Jahres 2018 wird daran erinnert – er hält sich in einem Land auf, das in seinen Ostgebieten Krieg führt. Die Silvester- und Neujahrsfeiern finden statt wie in Friedenszeiten, aber in vielen Museen und Ausstellungen weisen Fotos auf die bellizistischen Tatsachen hin. „Die Front ist hier so weit weg wie Berlin“, sagt Frank (Name geändert). Er hat in Lviv Fuß gefasst und bietet alternative Stadtrundgänge an. Nationalitäten-Animositäten gibt es nicht nur bezogen auf die Russen. „Die Polen machen sich hier nicht gerade beliebt, wenn sie nach Lviv kommen und sagen: Das ist doch eigentlich eine polnische Stadt.“ Franks Besuchergruppe steht gerade vor dem „Friedhof der Kuscheltiere“. Da hatte einer mal die Idee, überflüssige Plüschtiere in einem Hof abzulegen und viele Dutzend sind diesem Beispiel gefolgt.
 
„S nowom rokom“ grüßt der ostdeutsche Besucher beim Betreten einer kleinen Kneipe am Rande des Lviver Zentrums. Das hat er schnell gelernt, denn „s nowom godom“ wäre ja Russisch, nicht Ukrainisch. Im Weiteren erklärt er der Wirtin, dass er von nun an aber Russisch radebrechen müsse, das habe man eben bei ihm daheim so in der Schule gelernt. Sie lacht, winkt ab und stellt ihm sein Glas hin.
 
Man ist geneigt, der österreichischen Herrschaft vieles abzubitten. Unter Kaiser Franz Josef war Lemberg ein Schmelztiegel von ukrainischen, polnischen, deutschen, jüdischen, russischen, armenische Einwohnern. Seither geriet die Vielfalt unter Druck. Das 19. Jahrhundert mit den in ihm ausgeprägten spezifischen Vorstellungen von „Nation“, „nationaler Schmach“ und „Patriotismus“ hat zu Ausgrenzung, Vertreibung, Verarmungen geführt, die gerade Lviv sehr getroffen haben. Derzeit scheint diesbezüglich sich der letzte Akt zu vollziehen, die Russen verschwinden aus der Stadt. Es gibt nur noch Anklänge aus der einstigen Zeit des Lemberger „Multikulti“. Im prachtvollen Opernhaus der k. u. k. Monarchie wird am Silvesterabend die Operette „Fledermaus“ gegeben. Opulent inszeniert. Natürlich in der Landessprache, und für den deutschen Besucher ist es eigenartig berührend, die „Unschuld vom Lande“ ukrainisch schmachten zu hören. Johann Strauß würde es gefreut haben. Klanglich ähnelt das „ukrainische Russisch“ (Google) eher dem Polnischen. Die Buchstaben des ukrainischen Alphabets sind kyrillischen Ursprungs. Heute wehen über Lviv neben den gelb-blauen Nationalfahnen viele EU-Fahnen – und das obwohl die Ukraine praktisch keine Chance auf die EU-Mitgliedschaft hat. Die unmittelbare Staatspleite wird durch Brüssel wohl abgewendet. Das aber reicht in diesem armen Land nicht. Kurz vor Silvester wurde bekannt, dass die USA jetzt moderne Waffen ins das ukrainisch-russischen Krisengebiet schicken wollen.

Gleich neben der Galizischen Straße steht das Reiterstandbild von Danilo, eines Königs, der nach neuster Deutung im 12. Jahrhundert die ukrainische Nation begründet hat. Vermutlich hat er selbst das nicht einmal gewusst, seine Herrschaft war jedenfalls nicht von Dauer. Als Staat der Neuzeit war die Ukraine tatsächlich eine deutsche Erfindung, wenn auch von noch viel geringer Lebenszeit. 1917 wurde sie als Pufferstaat gegen Sowjetrussland gebildet, hielt sich aber gegen Polen und Russland nicht lange. Im Lviver „Museum des Terrors“ ist eindrucksvoll dargestellt, was danach als deutscher Einfluss auf das Gebiet um Lemberg zu gelten hat. Wikipedia: „1941 wurde Lwow nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion Teil des deutschen Generalgouvernements und fungierte nun wieder unter dem Namen Lemberg als Hauptstadt des Distrikts Galizien. Kreishauptmann und damit oberster ziviler Herrscher in Lemberg war der Krefelder Joachim Freiherr von der Leyen. Fast alle jüdischen Lemberger wurden in der Folgezeit ermordet, unter anderem im von den Nationalsozialisten eingerichteten Ghetto Lemberg, im städtischen Zwangsarbeitslager Lemberg-Janowska und im Vernichtungslager Belzec. Unter den zerstörten Synagogen befand sich Beit Chasidim, die älteste der Stadt. Insgesamt wurden in Lemberg und der Lemberger Umgebung während der Zeit des Nationalsozialismus mehr als 540.000 Menschen in Konzentrations- und Gefangenenlagern umgebracht, davon rund 400.000 Juden, darunter etwa 130.000 Lemberger. Die verbleibenden etwa 140.000 Opfer waren russische Gefangene.“
 
Mal abgesehen davon, dass die „russischen Kriegsgefangenen“ sowjetische Kriegsgefangene waren: Die heutige deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) hat natürlich das Recht, vor Sippenhaft geschützt zu sein, sie hat als geborenen Albrecht ja auch in diesen Leyen-Clan eingeheiratet. Der genannte furchtbare Freiherr und Lemberger Kreishauptmann kam 1945 beim Luftangriff auf Dresden um. In einem allenfalls zu vermutenden Zusammenhang stehen diese Dinge mit der Tatsache, dass in heutigen Lviver Kneipen vereinzelt ein Flaschenbier verkauft wird, auf dem die deutsche Kanzlerin Angela Merkel als „Frau Ribbentrop“ etikettiert wird. Die Ukraine hatte, wie auch Weißrussland, im Zweiten Weltkrieg einen so hohen Blutzoll zu entrichten, dass beide Unionsrepubliken nach dem Krieg in der neuen UNO einen Sitz erhielten als wären sie eigenständige Staaten. So gesehen war die UdSSR in der Weltgemeinschaft mit drei Stimmen vertreten.
 
Einer der wenigen überlebenden jüdischen Lemberger war Stanislaw Lem, ein literarisches Weltereignis. Lem, dessen Name und der seiner Heimatstadt seltsam ähnlich sind, lebte nach dem Krieg in Polen und schrieb Bücher, die zu sozialistischen Zeiten der „utopische Literatur“ zugeordnet wurde. Er selbst tat dies nicht, auf ihn geht der Satz zurück, er möge utopische Bücher, aber nur die schlechten. Vor all den verwickelten Hintergründen der Lviver Vergangenheit sollte König Danilo nicht einfach abgetan werden. Denn alle anderen nationalen Geschichten und Überzeugungen auf der Welt sind ja ebenfalls letztlich nur geistige Konstruktionen, bei denen es im Auge des Betrachters liegt, ob sie der Utopie zuzuordnen sind oder der Wirklichkeit.