Ex-Vizepräsident der EU-Kommission Günter Verheugen (SPD) rechnet mit dem kriegerischen Zeitgeist ab/General a.D. Kujat: reguläre britische Einheiten kämpfen in der Ukraine
Von Matthias Krauß
Auf eine seltsam-bedrückende Weise hatte das Großgemälde aus der Kaiserzeit im Vorsaal auf den Abend im Potsdamer Kommandantenhaus der Garde du Corps aktuell eingestimmt. Darauf abgebildet: eine Schlachtszene des Siebenjährigen Krieges, in der preußische und russische Soldaten einander niedermetzeln. „Ist Europa noch zu retten?“ hieß das Motto des Symposiums, zu dem der Verein PRO BANDENBURG mit seinem neuen Vorsitzenden, Universitäts-Präsident Professor Oliver Günther, für Dienstagabend eingeladen hatte. Und um es vorweg zu nehmen: Zu einem optimistischen „Ja“ konnte sich keiner der prominenten Gäste durchringen.
Bild: Fotoausstellung 2018 in Lemberg/Lviv: „Nach dem Krieg“
Von einer „Geschichte, die auch von unserer Seite eine Geschichte von Versäumnissen und Fehleinschätzungen war“, sprach der ehemalige Vizepräsident der Europäischen Kommission Günter Verheugen (SPD). Die populäre Lesart, wonach der gegenwärtige Krieg im Osten „Europa zusammenschweißt“, sei doppelt falsch. Denn Europa werde durch ihn zerrissen. Von einer Einigkeit innerhalb der EU könne man in der Beurteilung des bedrückenden Vorgangs sprechen. Aber in der Frage „wie wir damit umgehen, gibt es keine Einigkeit.“ Abgesehen davon, dass die Europäische Union auch vor dem Krieg schon von einer immer stärkeren „nationale Eigensucht“ heimgesucht worden sei. Dem EU-Versprechen, Sicherheit und Wohlstand zu bieten stand der gleichzeitig drängender werdende Versuch gegenüber, nationale Identitäten zu behaupten. Es gelte sich von der „Wahnidee“ zu trennen, „dass jede europäische Regelung per se gut ist.“ Nie habe er sich vorstellen können, sagte Verheugen, dass es einmal eine Frage sein werde, ob man Europa noch zusammenhalten könne. Aber: „Das ist nicht sicher!“
Spätestens mit dem Angriff Russlands seien „tektonische Verschiebungen“ offengelegt worden, in deren Konsequenz ein „eurasischer Block“ als Gegenüber zu Nordamerika entstehe, zu dem Rest-Europa gehöre. „Wir müssen uns entscheiden“, mahnte der SPD-Politiker. „Wollen wir weiter als Klientel einer Führungsmacht eine Nebenrolle spielen oder unser Schicksal in die eigenen Hände nehmen.“
Bundeskanzler Olaf Scholz sei mit seiner vergleichsweise zurückhaltenden Position gegenüber dem Ukraine-Krieg einem „Medientrommelfeuer“ ausgesetzt, „wie ich es noch nie erlebt habe“, sagte Verheugen. Auf Scholz laste ein „enormer Druck“ und sein Spielraum enge sich zusehends ein. Der konzentrierte internationale und mediale Druck, werde die Widerstandsfähigkeit des Bundeskanzler erschöpfen, „fürchte ich.“ Der Ukraine in dieser Situation schwere Waffen zu liefern, erscheine ihm „sinnlos“, setzte Verheugen hinzu. Die damit zusammenhängenden Fragen seien, ob die Ukrainer sie bedienen könnten, aber auch, „bei wem sie landen“.
Der einstige Generalinspekteur der Bundeswehr und Ex-Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, General a.D. Harald Kujat forderte in dieser Runde dazu auf, von solchen Waffenlieferungen „die Finger zu lassen“, „Sie verlängern den Krieg und erhöhen den Blutzoll. Wir tun der Ukraine damit keinen Gefallen.“ Wirksam eingesetzt werden könnten moderne Panzer nur innerhalb eines modernen Kommunikationssystems und in einem jahrelang trainierten Zusammenspiel von Infanterie, Artillerie und Kampfflugzeugen. „Sonst kämpfen sie gegeneinander.“ Heutige Panzer seien für die Russen „große Ziele“. Außerdem laufen solche Lieferungen auf eine Entwaffnung der Bundeswehr hinaus. Der Ex-General: „Als ich Generalinspekteur der Bundeswehr war, hatte diese Armee 4.800 moderne Panzer.“ Heute seien es 225.
Kujat sprach die völkerrechtliche Frage einer solchen Entscheidung an. Wer der Ukraine Waffen liefere, handle faktisch als Kriegspartei. Großbritannien ist laut Kujat offenbar schon einen Schritt weiter gegangen. Dieser Staat sei „auch völkerrechtlich“ in das ukrainischen Kriegsgeschehen einbezogen. Einige reguläre britische Soldaten würden sich in russischer Kriegsgefangenschaft befinden.
Bezogen auf den Kriegsschauplatz sprach Kujat von einer Zangenbewegung, die nicht so erfolglos sei, wie sie vielen im Westen erscheine. Die derzeit übliche Darstellung eines „russischen Versagens“ seien weit übertrieben. Binnen weniger Tage habe Russland ein Territorium erobert „so groß wie Großbritannien“ und damit die zur Rückeroberung der Krim zusammengezogenen Hauptkräfte der ukrainische Armee eingeschlossen. Entgegen der landläufigen Meinung kämpfe Russland keineswegs gegen die ukrainische Zivilbevölkerung, aber die ukrainische Armee habe sich in die (bewohnten) Städte zurückgezogen und verteidige sich von dort aus. In Mariopol sei die Asowsche Einheit aktiv, die in ihrem Wappen laut Kujat das Symbol der zweiten SS-Panzerdivision führe, die 1943 Charkow zeitweilig zurückerobern konnte. Kujat nannte – auf der anderen Seite – den Widerstand gegen den Krieg innerhalb der russischen Bevölkerung „enorm groß“, und er sprach von „großen Vorbehalten im russischen Offizierskorps.“
Zum Thema der NATO-Erweiterung, die von Russland immer kritisch gesehen wurde, und die mit dem Selbstbestimmungsrecht der betreffenden osteuropäischen Staaten begründet worden sei, empfahl der Ex-Generalinspekteur die Lektüre von Artikel 10 des NATO-Vertrags. Demnach könne kein Land einfach beitreten, es müsse vielmehr von allen Mitgliedern eingeladen werden. Verbunden damit sei die Erwartung, dass Neu-Mitglieder die Sicherheit aller erhöht und nicht, dass sie neue Konflikte in die Nato importierten.
Laut Kujat hat sich der einstige US-Außenminister Kissinger in der Washingtoner Administration nicht durchsetzen können mit dem Plan, die Ukraine als „Brücke zwischen Ost und West“ zu entwickeln. Dagegen verfolgten Verheugen zufolge die zwei amerikanische Präsidenten vor Biden das Ziel, den Wiederaufstieg Russlands zur Weltmacht zu unterbinden. Dieser Aufstieg könne „nur geschehen, wenn die Ukraine zu Russland gehört.“ Putins Ziel wiederum sei, zu verhindern, dass dieses Land „zu einem US-amerikanischen Flugzeugträger wird.“
Verheugen unterstrich, es sei in der Vergangenheit eher der Westen gewesen, der die Annäherung der Ukraine an die EU unterbunden habe. „Die Europäer wollten die Ukraine nicht … Alle, die so tun, als blute ihnen das Herz – also da kann ich nur lachen.“ Er sprach von einem „heuchlerischen Getue“. Auch das Assoziationsabkommen EU-Ukraine, das der später gewaltsam gestürzte Präsident Janukowitsch nicht unterschreiben wollte, „sieht keine Mitgliedschaft in der EU vor.“ Jahrzehntelang sei alles dafür getan worden, „dass die Ukraine keine europäische Perspektive hat.“ Dabei nannte Verheugen ausdrücklich das „Adenauer-Haus.“ Befragt nach der Idee von Ratspräsidentin Ursula von der Leyen, der Ukraine eine „Blitzmitgliedschaft in der EU“ zu gestatten, winkte er ab: „Die Dame spinnt.“
Bezogen auf Russland „waren wir auf einem guten Weg“, erinnerte Verheugen und sprach vom „Versuch, Russland einzubinden in unser europäisches Haus.“ Dass dies „gescheitert“ sei, könne niemand übersehen. Aber der Politiker machte klar, dass dies keineswegs Russland allein anzulasten wäre. Eine strategische Partnerschaft, wie Russland sie angestrebt hatte, habe ihm der Westen niemals geboten. In den Jahren 2018/19 habe Russland „endgültig das Vertrauen verloren.“ Auch Kujat erwähnte eine „sehr enge Zusammenarbeit nach 1990.“ Ein von den Russen erwartetes Mitbestimmungsrecht indessen, „konnten wir ihnen nicht einräumen.“ Ins Stocken geraten sei diese positive Entwicklung erstmals 2001, als die USA den ABM-Vertrag einseitig aufkündigte und gleichzeitig in Polen und Rumänien Waffensysteme stationiert wurden, die aus Sicht der Russen ihnen die atomare Zweitschlagfähigkeit nehmen sollten. Zum „Wendepunkt“ sei es gekommen, als Georgien im Süden militärisch angegriffen hatte und Russland zurückschlug. Kujat: „Heute wird das als Angriff Russlands gegen Georgien dargestellt.“ Und schließlich: „Man kann Putin nicht für alles verantwortlich machen.“