Die Große Bärin

Angela Merkel – Willkommen und Abschied/16 Jahre sind (k)eine lange Zeit

Von Matthias Krauß

… aber eine passive Planlosigkeit, die froh ist, wenn sie in Ruhe gelassen wird, können wir in der Mitte von Europa nicht durchführen.“ (Otto v. Bismarck)

Als es am ersten Wahlsieg der Angela Merkel 2005 nichts mehr zu rütteln gab, legte der Eichborn Verlag eine Publikation unter dem Titel „16 Jahre Merkel sind genug“ vor. Auf dem Deckblatt: Ein auf alt verfremdetes Merkel-Gesicht mit wuchtiger Oma-Frisur. Das war damals eigenartig und keineswegs ernst gemeint. Dass diese Frau länger als eine Legislaturperiode im Amt überstehen könnte, glaubte zu diesem Zeitpunkt niemand, sie selbst vermutlich auch nicht. Darüber jedenfalls lacht heute niemand mehr. Die 16 Jahre Merkel-Herrschaft von der lustigen Utopie zur seltsamen Wirklichkeit mutiert. Wenige Wochen vor ihrem definitiven Abgang überholt eine schon totgesagte SPD nun auch noch Merkels CDU in der Umfrage-Wählergunst. Nicht, weil der Durchschnittsbürger an der SPD etwas Vorteilhaftes zu entdecken vermag, sondern einzig weil ihr umstrittener Kandidat Olaf Scholz noch eher staatsmännisch wirkt als der von der CDU präsentierte Armin Laschet, der belanglos-witzig erscheint. Zusätzlich schwer eingetrübt wird die Endphase der Ära Merkel durch das Katastrophen-Hochwasser im Westen Deutschlands und den verlorenen Krieg in Afghanistan.

Im Vorfeld der Wahl 2005, die Deutschland und der Welt eine Kanzlerin mit Namen Angela Merkel bescheren sollte, erschienen sieben Bücher über diese Frau. Sechs von West-Autoren und ein Buch von mir. Ich dachte mir, wie sich die Wessis über diese Frau verbreiten, das weiß ja jeder, aber vielleicht ist auch nicht völlig unwichtig, was unsereiner zu diesem Aggregat zu sagen hat. So erblickte dieses Buch das Licht der Welt: „Das Mädchen für alles, Angela Merkel – ein Annäherungsversuch“

Zur Erklärung: Eine Biografie konnte ich nicht schreiben, denn das hätte das Einverständnis der Frau Merkel vorausgesetzt. Biografien muss man „absegnen“ lassen. Wie dieses zu erlangen sein könnte, war mir schleierhaft. So blieb mir nur der Annäherungsversuche an Angela Merkel und davon kann ich jeden Tag fünf verfassen.

Natürlich unterscheidet sich mein Buch von des West-Bücher über diese CDU-Politikerin. Wie konnte es sein, so stellte ich die Frage, dass mit Merkel (und Joachim Gauck) zwei Ostdeutsche die höchsten Ämter der Bundesrepublik gelangten, die eben keine Widerständler waren, die nicht aus Kreisen des Widerstands stammten, sondern vollkommen loyale DDR-Bürger waren und von Widerstand gegen die SED-Herrschaft so weit entfernt waren wie unsereiner? Das trifft übrigens auch auf Ex-Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse (SPD) zu, der protokollarisch sogar noch über der Kanzlerin stand. Oder ich fragte angesichts der westdeutschen Intensivsuche nach den exklusiven „Geheimnissen“ dieser Frau Merkel, ob es nicht einfach Banalität gewesen sein könnte, welche bei diesem Siegeszug den Ausschlag gegeben hatte. Mein Buch unterschied sich auch in einem ganz unmittelbaren, überprüfbaren Sinne von denen der westdeutschen „Konkurrenz“. Denn alle anderen Autoren gingen 2005 wie selbstverständlich davon aus, dass Merkel nach ihrer Wahl die Chefin einer CDU-FDP-Regierung werden würde. Ich war der einzige, der schrieb, das kommt nicht, weil es nicht kommen kann. Der Aufstieg Angela Merkels war begleitet vom politischen Aufstieg der PDS (später Linke). Und ich wusste: Die PDS würde 2005 im Bundestag so stark werden, dass sie eine Art Zünglein an der Waage betätigen würde. Weder eine CDU-FDP-Regierung („Schwarz-Gelb“) noch eine SPD-Grünen-Regierung würde eine Mehrheit haben. Der politische Erfolg der PDS 2005 zwang die Politik Deutschlands zu einer großen Koalition. Dieser wichtige Punkt war an mich gegangen.

Aber ich bekenne: Auch ich lag keineswegs mit allem richtig, was ich in diesem Buch gewissermaßen an die Wand gemalt hatte. Denn auch ich sah in ihr die „Konservative“, den „eiskalten Engel“ (Angela heißt „Der Engel), der – einer Margarete Thatcher gleich – zum Flug über Deutschland ansetzt und den Tisch abräumt und nicht deckt.

So aber kann man den politischen Kurs nicht beschreiben, den Angela Merkel in den vergangenen 16 Jahren als Kanzlerin gehalten hat. Natürlich, um das Entscheidende kurz abzuhandeln, wurden in dieser Zeit die Reichen reicher, die sozialen Abstände tiefgreifender, die Privilegierten in ihren Privilegien massiv gestärkt und der Rest irgendwie gerade so abgefunden. So ist es nun mal, wenn die herrschende Klasse herrscht. Das war der Sinn der Übung – wenn auch inzwischen linke Politiker unsere „offene demokratische Gesellschaft“ preisen. Und hätte Angela Merkel daran tatsächlich hätte etwas ändern wollen, dann hätte sie vermutlich über kurz oder lang das Schicksal von Detlef Rohwedder geteilt.

So aber wählte sie den für eine wirkungsvolle Politik unzweckmäßigsten aber u. U. jahrelang völlig unauffälligen Kurs des „Alles bleibt irgendwie so, wie es ist.“ Von ihr durchgeführt wurde Konservatismus im Wortsinne, also das Bewahren, das Einfrieren. Das von Merkel damals geerbte politische Vorfeld war für diesen Stil günstig: Denn was war die Bilanz der rot-grünen Schröder-Fischer-Regierung, der „linkesten aller jemals bestehenden Bundesregierungen“: Weitere Entfesselung der Hedgefonds, Absenkung des Spitzensteuersatzes, der erste völkerrechtswidrige deutsche Angriffskrieg nach dem 2. Weltkrieg, Armut per Gesetz durch Hartz IV, eine Energiewende, welche die Rentnerin Klauke bezahlen muss aber nicht die Energiekonzerne, Volksveralberung durch die „Riester-Rente“ und ein Pfandflaschensystem nach dem Vorbild der DDR. Diese Politiker haben Deutschland durchaus verändert, wenn auch nicht im Sinne der Minderprivilegierten.

Wie wollte Angela Merkel das noch rechts überholen? Wenn sich die politische Konkurrenz dermaßen ruiniert, ist gut herrschen. Während sich die SPD von diesen Schröder-Jahren („Genosse der Bosse“) nie erholt hat, sieht man von diesem Verlegenheits-Boom des Sommers 2021 einmal ab, waren die Teflon-Grünen in der Lage, das alles von sich abzuschütteln und sich heute – ein Treppenwitz der Politgeschichte – als große Hoffnung in Grün zu präsentieren.

Vorgänger Schröder hat die SPD auf Dauer ruiniert. Angela Merkel übt auf die CDU eine ähnliche Wirkung aus, sie ist aber subtiler. Vom sowjetischen Staatschef Josef Stalin heißt es, dass er in der praktischen Politik mal weit rechts von seinen rechten Kritikern stand und gelegentlich auch mal weit links von seinen linken. Stalin hatte nach eigenem Selbstverständnis nicht unbedingt eine Ideologie zu erfüllen, sondern ein Reich zu regieren. Als Muster übertragen, verhält es sich bei Angela Merkel ähnlich, die Frage aber ist, ob sie dabei ähnlich erfolgreich sein wird und etwas Dauerhaftes hinterlassen kann. Einem überkommenden Raster entsprach ihre politische Praxis nicht. Sie bemühte sich, ihrer Regierung einen Sinn zu geben, in dem sie „auf Sicht“ fuhr, saugte grüne Ziele (Klimawandel, Atomausstieg, Kohleausstieg) auf wie auch soziale Aspekte (Mindestlohn, Respektrente, Flüchtlings-Willkommen, Herero-Völkermord-Anerkennung) und hat dabei außen- und innenpolitisch eine Unschärfe einziehen lassen, in der alle politischen Katzen grau sind. Inhaltlich rückten in ihrer Amtszeit sämtliche Parteien (außer die AfD) noch stärker aufeinander zu als sie es zuvor schon taten.

Sich nicht festzulegen, taktisch abzuwarten, alle Eisen im Feuer behalten galten als Tugenden Merkels, welche sie in das Amt geführt hätten. Aber ist dieser Stil auch für die deutsche Politik sinnvoll? Auf jeden Fall haben andere ihn schon mal kopiert. Inzwischen kann jeder mit jedem in der „demokratischen Familie“ – selbst eine Koalition CDU-Linke ist nicht mehr prinzipiell ausgeschlossen, da kann CDU-Kanzlerkandidat Laschet erzählen, was er will. Deutschland erlebt die Wiederauferstehung des von Kurt Tucholsky in den 20er Jahren beschriebenen „Bürgerrechtslinksblocks“. Die politische Vielfalt ist nur noch vermeintlich, oberflächlich, äußerlich, folkloristisch – der politische Abstand zwischen den Parteien ist nicht mehr größer als der zwischen DDR-Blockparteien untereinander. Auch damals waren die einen die einen und die anderen waren die anderen. Was ihrem politischen Bund keinen Abbruch tat. Es gibt natürlich Gründe dafür, dass es zu einem heutigen Zusammenschluss aller zu einer freiheitlich-demokratischen Einheitspartei mit einer christdemokratischen, sozialdemokratischen, grünen, liberalen und linken Plattform nicht kommt – aber grundsätzlicher Natur sind diese Gründe nicht mehr.

Parallel dazu erfuhr die deutsche Staatsapparatur eine Aufblähung und Verteuerung, die für die Endphase des römischen Reiches typisch war. Deutschland leistet sich ein Parlament, das nach dem chinesischen das größte der Welt ist. Das aber ist nur die Spitze des Eisbergs, gegen den das deutsche Staatschiff rammen wird. Der Gebärstreik nach der Wende sorgt dafür, dass alle substanziellen Bereiche der Gesellschaft: Handwerk, Pflege, Landwirtschaft, Fremdenverkehr personell in eine unhaltbar Lage geraten, während die Staatsapparatur sich personell immer mehr vollsaugt: In den extrem schwierigen Nachkriegszeiten kam das Bundeskanzleramt mit 120 Mitarbeitern aus – das 2009 eingeweihte neue Gebäude ist heute schon wieder zu klein, weil die 750 Beamte dort einfach nicht mehr hineinpassen.

Unter Merkel entstanden Bundesministerien, die in ihrer Ausstattung eher Wellness-Tempeln gleichen. Dieser Stil wurde von den Bundesländern bereitwillig kopiert: Vor 16 Jahren betrug die Durchschnittliche Beamtenpension in Brandenburg das Zweieinhalbfache der Durchschnittsrente – heute ist es das Viereinhalbfache. Es ist sonnenklar, für wen in Deutschland der Weizen blüht. Und man kann sich darauf verlassen: Je größer die sozialen Abstände zwischen Beamtenpensionär und Rentner werden, desto stärker werden alle künftigen Bundeskanzler an die Aneignungsinteressen der sie umstellt habenden Kaste gefesselt sein.
Die mediale Absicherung erfolgt durch einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der sich in seinen Anstellungspraxis „am Beamtenrecht orientiert“. So bestätigte es die rbb-Intendantin Patricia Schlesigner bei ihre Anhörung im Kulturausschuss des Potsdamer Landtags vor einigen Wochen gleich mehrfach. Die Pensionsberechtigungsmentalität hat sich also auch dort festgekrallt.

Während Politiker, Beamte und Rundfunk-Beamte den stolzen Anwartschaften entgegenfiebern, hat auf der anderen Seite die von Merkel (gleichwohl nicht von ihr allein) betriebene „Eurorettung“, d.h die Null-Zins-Politik seit 2009, dazu geführt, dass Ärzte, Anwälte und Handwerksmeister massive Abstriche an ihrer Altersversorgung hinnehmen müssen, sofern sie überhaupt noch eine bekommen. Denn die zur Privat-Vorsorge Gezwungenen können einzahlen, was sie wollen – ohne den Zins- und Zinseszins-Effekt geht die Rechnung nicht auf und im besten Fall werden sie einen guten Euro eingezahlt haben und einen schlechten rückerstattet bekommen. Der vor einigen Wochen erfolge Eintritt in die „Schulden-Union“ ist eine Maßnahme mehr, die dazu führt, dass nicht die Profiteure des europäischen Verschuldungskurses seit 2000, also Millionäre und Milliardäre, für die Folgen aufkommen müssen. (Diesen Präzedenzfall wollten Frau Merkel und Signore Mario Draghi nicht.) Nein, den bezahlen die Sparer und Privatversicherten ganz Europas mit der gar nicht mehr schleichenden Entwertung ihrer Vermögen. Die slowakische Ministerpräsidentin Iveta Radicova sprach von einer Hilfe, welche die Armen den Reichen gewähren müssten. Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich ruhig in Deutschland, dem „Land der Sparer“, aber wiederum ist es auch kein Wunder, denn dieses Land war ohnehin nie besonders ehrlich zu sich selbst. Diskutiert wird immer ganz heftig irgendwas, aber nie das wirklich wichtige oder das, woran alle pausenlos denken. Reform? Änderung? Ausgeschlossen. Es geht seinen Gang. Und Draghi bekommt das Bundesverdienstkreuz.

Diese Unterordnung großer Teile der deutschen Bevölkerung unter die Interessen in- und ausländischer Kapitalvermehrer ist neben der unfassbaren Verteuerung des öffentlichen Dienstes der finanzpolitisch wichtigste Zug der Merkel-Jahre. Zum Ausdruck kommt darin auch die Schwächung Deutschlands innerhalb der EU. Wenn Frau Merkel das eigene Volk zur Vermögensrettung für ausländischen Spekulanten einsetzen muss, dann ist klar, wo die Macht inzwischen liegt. Entsprechend kraftlos und selbstbezogen kann diese EU nur noch handeln. Die USA behandeln Deutschland ohnehin mit ausgesuchter Verachtung und haben nicht einmal mehr nötig, das zu tarnen.

Nahm Angela Merkel, die erfolgreiche Teilnehmerin an der Russisch-Olympiade, zumindest dieses Erbe von Vorgänger Schröder auf und pflegte halbwegs gute Beziehungen zu Russland? Kaum gekürt, erklärte sie, dass alle Wege nach Moskau über Warschau führen werden. Zu ihren politischen Ergebnisse gehört eine substantielle Verschlechterung der Beziehungen zum Reich im Osten. Deutschland wird von Moskau gehasst und von Warschau dennoch nicht geliebt und notorisch misstrauisch beäugt.

Innenpolitisch steuert Deutschland auf „französische Verhältnisse“ zu, d.h. es ist sehr wahrscheinlich, dass am Wahlabend die Parteien CDU, SPD, Grüne, AfD alle um die 20 Prozent der Stimmen zugesprochen bekommen. Die Linken müssen um den Wiedereinzug fürchten, die FDP eher nicht. Die Freien Wähler könnten Profiteure der allgemeinen Ratlosigkeit sein und eine Fraktion im Bundestag bilden.

Das kommt heraus, wenn man für niemanden eindeutig handelt: ein Platz zwischen allen Stühlen. Vielleicht wird es einmal heißen, mit der ewigen Zweideutigkeit Angela Merkels wurde Deutschen in die politische Zweitklassigkeit befördert. Mit ihr hat das Land nur Zeit verloren. Zeit, die hätte genutzt werden müssen, um seine Rolle in einer sich verändernden Welt neu zu bestimmen. Das geht nun einmal nicht, indem man es allen ein wenig recht machen will und allen ein wenig unrecht.