Manchmal auch Cordon Sanitaire

Hatte die Berliner Mauer etwa auch gute Seiten? Unliebsame Anmerkungen zu einem problematischen Jubiläum

Von Matthias Krauß

Nichts was auf der Welt sich findet, ist so schlecht, dass die Welt nicht einen besonderen Nutzen daraus ziehe…“
(Shakespeare)

Eine Mauer wie die vom Schlage der Berliner war nie etwas anderes als monströs. Eine solche Anlage wirkt von keiner Seite schön, sei sie bemalt oder nicht. Zwang und Bedrohung werden nicht auf Dauer eine positive Grundstimmung erzeugen. Vielleicht aber kann man sich am 60. Jahrestag ihrer Errichtung dennoch unaufgeregt der Frage zuwenden, ob nicht das eine oder andere gute Haar an diesem übel beleumdeten Bauwerk gelassen werden kann. Wenn von positiven Wirkungen der Mauer zu sprechen ist, dann natürlich im Wissen, dass die Architekten der Mauer die fast alle nicht im Sinn hatten, weil sie dies oft genug gar nicht im Sinn haben konnten. Im gesellschaftlichen Leben ist es wie im privaten: Man kann Pläne schmieden und Dinge zielbewusst einleiten – was dann aber wirklich am Ende herauskommt steht fast immer auf einem anderen Blatt. Wie Bertolt Brecht von den zwei Plänen dichtete: „gehn tun sie beide nicht….“

Der Mauerbau entschärfte eine gefährliche Lage im Zentrum Europas. Auf Kosten der Ostdeutschen. Was 1961 eine weitere Destabilisierung der DDR mit 600.000 sowjetischen Soldaten im Land hätte bedeuten können, musste zum Glück niemand erfahren. Der Preis für diese „Stabilität“ war der Mauerbau, und er war hoch, sicher. Was aber immer Schreckliches dabei oder danach geschah – es hielt sich (in doppeltem Sinne) in Grenzen. Auf einer Stufe mit den grauenhaften Kolonialverbrechen des „Westens“ stand sie zu keinem Zeitpunkt. Denn was taten während der Mauer-Jahre die Belgier im Kongo? Die Franzosen in Algerien? Die Briten in Kenia und Rhodesien? Die Portugiesen in Angola und Mocambique? Die US-Amerikaner in Vietnam und weltweit? „Totschlag ohne Zahl“ wäre eine milde Umschreibung dieser Vorgänge. Und sie taten es mit der stillschweigenden und offenen Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland.

Die Mauer – auch das zählt zu ihren positiven Auswirkungen – war eine Bestandsgarantie für Westberlin. Das versteht heute nur noch wer sich die damalige Angst vergegenwärtigt, die Russen würden einfach mal über die Straße des 17. Juni oder die Heerstraße einmarschieren und die Amerikaner nicht so blöd sein, für die paar Westberliner „Krauts“ den dritten Weltkrieg zu riskieren. Mit der Mauer war diese Befürchtung gegenstandslos, denn niemand wird eine Stadt, die er erobern will, zuvor noch mit einer Mauer umgeben. Westberlin war danach sicher, konnte mit seinem Fernsehsender SFB weiter via Wetterbericht dem Revanchismus Zucker geben und Deutschland in den Grenzen von 1937 servieren. Jahrzehntlang jeden Abend. (Man fragt sich beiläufig, wann dieser Sender, bzw. seine Nachfolgeorganisation rbb, dafür endlich einmal um Entschuldigung bittet.)

Der Mauerbau stoppte das Ausbluten der DDR. Die offene Grenze hat diesem kleinen Staat einen Verlust von abermilliarden Dollar eingetragen. Es gab 1961 zehn Prozent weniger Ärzte als 1949. Und in der gleichen Zeit hatte die DDR 20.000 Ärzte ausgebildet. Von zehn DDR Bürgern war zuvor einer in den Westen übergesiedelt. Aber die neun anderen waren noch da, und viele von ihnen wollten nicht länger ein Fass ohne Boden befüllen. Deshalb gab es 1961 bei einem nicht geringen Teil der DDR-Bevölkerung auch Zustimmung zur Abriegelung. Künstler wie Manfred Krug und Wolf Biermann bekundeten das offensiv. Wie sich am Ende aber herausstellte, konnte die DDR mit Mauer ebensowenig existieren wie ohne sie.

Es hat an der Berliner Mauer in 28 Jahren 136 Tote gegeben. 25 Menschen wurden von westlicher Seite aus erschossen. Das ist zutiefst zu bedauern. Welches Gewicht man diesen schlimmen Ereignissen auch gibt – dabei lässt sich nicht davon absehen, dass diese Mauer nicht einfach eine x-beliebige Grenze war. Sie war die Trennlinie zweier einander feindlich gesinnter Weltsysteme, die mit Atomwaffen aufeinander angelegt hatten. An eine solche Grenze kann man nicht die Maßstäbe anlegen wie an die zwischen Frankreich und der Schweiz. Auch wäre es in diesem Zusammenhang angezeigt, vergleichend die Opfer in den Blick zu nehmen, welche die Grenze zwischen der Bundesrepublik einerseits und Frankreich, den Niederlanden und Belgien andererseits ebenfalls gefordert hatte.

Die DDR-Bürger waren die Leidtragenden des Mauerbaus, denn in erster Linie richtete sich diese Absperrung gegen sie. Weniger gegen die Westdeutschen (die ja nach ein paar Stockungen weiter hin und her fahren konnten). Es wäre mithin viel von Ex-DDR-Bürgern verlangt, positive Gefühle gegenüber der Mauer zu hegen. Und doch bestand punktuell Grund dazu und keineswegs unter allen Gesichtspunkten waren die Ostdeutschen Leidtragende. Ein schillerndes Beispiel: Die Contergan-Katastrophe in der Bundesrepublik. Die bewachte Grenze verhinderte, dass sie auch die DDR infizieren konnte. Ihr Zentraler Gutachterausschuss für den Arzneimittelverkehr hatte das Präparat abgelehnt. In der Bundesrepublik kamen Tausende verkrüppelte Kinder zur Welt, in der DDR nicht.

Noch eindrucksvoller bewährte sich die Mauer als cordon sanitaire im Fall der Immunschwächekrankheit Aids. Die neuen Bundesländer stehen in der (seit 1983 geführten) Todesstatistik deswegen so weit hinten, weil die DDR ihre Bürger erfolgreich schützen konnte. In der Bundesrepublik gab es knapp 15.000 Aids-Tote, in der DDR ein paar Dutzend. Das lag nicht allein an der Mauer, sondern auch am zentralistisch organisierten DDR-Gesundheitswesen, das auf Aids viel effektiver reagieren konnte als das bundesdeutsche. Legt man die Werte der westdeutschen Flächenländer zugrunde, dann hätte Ostdeutschland ohne Mauer und DDR 3.000 bis 4.000 Aids-Tote gehabt. Diese Menschen haben überlebt. Wenn das keine positive Wirkung war, was nennt man dann positive Wirkung?

Die Mauer hat verhindert, dass die Zustände der Bundesrepublik sich in der DDR breitmachen konnten. Übrigens auch ihre Zustände auf dem Gebiet des Verbrechens. Die DDR wurde von der UNO zu den zehn Staaten mit der geringsten Kriminalitätsbelastung der Erde gezählt. Die Rate für Mord und Totschlag der Bundesrepublik lag mindestens um das Doppelte, eher aber um das Dreifache über den vergleichbaren DDR-Werten. Niemand kann diese Dinge sicher berechnen, aber man kann mit Fug und Recht behaupten, dass mehrere Tausend Menschen zusätzlich ermordet worden wären, wenn die bundesdeutschen Verhältnisse schon 1961 auch auf das Gebiet Ostdeutschlands vorgedrungen wären. Dass dies eben nicht geschah, muss man wohl oder übel auch ein Resultat der Mauer nennen.

Wenn von den Vorteilen der Mauer-Zeit die Rede sein soll, dann doch von den für diese geschichtliche Phase entscheidenden Dinge: Erstens: Die Mauer war ein Symbol des innereuropäischen Friedens, so lange sie stand, hat der Krieg um Europa einen Bogen gemacht. Und wenige Wochen nach ihrer Erstürmung ist der Krieg nach Europa zurückgekehrt. An dieser Stelle ist dem Willy Brandt recht zu geben: „Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.“ Zweitens: Beiden deutschen Staaten gelang es im Schatten der Mauer, in ihren jeweiligen Bündnissystemen für die eigenen Bürger den höchsten Lebensstandard zu erklimmen. Mit Blick auf die Ereignisse vor 1945 muss man das wohl unverdient nennen. Und schließlich drittens: Während der Mauer-Jahre schafften es beide deutschen Staaten, das Bild vom schrecklichen Deutschen in den Hintergrund zu drängen und sich einen anerkannten und gleichberechtigten Platz auf der internationalen Bühne zu verdienen. Sowohl die BRD als auch die DDR taten dies, jeder auf seine Weise. Es hat – mithin – in der deutschen Geschichte schrecklichere Zeiten gegeben als die der Mauer.

Die Mauer hat etliche Quadratkilometer innerstädtisches Terrain gefressen, viel Land, das ohne sie vor 50 oder 60 Jahren einfach stadtpolitisch verbraucht worden wäre. Inzwischen ist Behutsamkeit Trumpf, angesichts einer Freifläche rollt nicht gleich der Betonmischer an. Die Mauer hat das grüne Band hinterlassen, das sich heute durch Berlin und um den Westteil der Stadt zieht. Dieses Band ist ihr eigenes ziviles Denkmal, eine Art Abschiedsgruß. Es könnte Anlass sein, zu einem versöhnlichen Ende zu finden. Denn bei allem Verwerflichen: Der Vorgang „Mauer“ ist doch im Großen und Ganzen friedlich abgelaufen. „Doch“, um es wieder mit Brecht zu sagen: „die Verhältnisse, sie sind nicht so“.