Die Suppe der Betrachtung

Zum TV-Beitrag „Deutschland-Duell“/gekürzt erschienen in der „Jungen Welt“ vom 15. April

Von Matthias Krauß

Ein ungewöhnlicher und eigentlich nicht passender Titel für eine Fernseh-Dokumentation, die einen statistischen Vergleich DDR – ehemalige Bundesrepublik zum Inhalt hat. Denn um ein Duell ist es in dieser zu Ostern ausgestrahlten filmischen Dokumentation von ZDF-Info nicht gegangen, mehr um eine vergleichende Betrachtung auf verschiedenen Feldern. Immerhin – der Beitrag war nicht im üblichen Modus „Diktatur-DDR gleich schlecht, Demokratie-BRD gleich gut“ gehalten, er wies beachtliche Ansätze von Sachlichkeit auf. Nicht zu früh nach 30 Jahren „Aufarbeitung“.

Warum sollen dabei nicht die auf der Hand liegenden Vorteile der ehemaligen Bundesrepublik gebührend zu ihrem Recht kommen? Die Lebenserwartung im Schnitt drei Jahre länger, das überreichliche Konsumangebot, die Ausstattung mit Telefonen. Über letzteres verfügten fast alle bundesdeutschen Haushalte, bei der DDR sollen es 17 Prozent gewesen sein. Man staunt, dass es überhaupt so viele waren. Den 25 Millionen West-Paketen standen immerhin 9 Millionen Pakete gegenüber, die jährlich aus der DDR in die Bundesrepublik ging, erfuhr der Zuschauer. In den Urlaub gereist wurde in der DDR mehr und vor allem Richtung Osten, in der BRD deutlich weniger, dafür aber in den Westen, na klar. Der von Gott (das ja) und aller Welt verlassene und isolierte DDR-Bürger fand in der Dokumentation nur bedingt eine Entsprechung. Aber: Den über 60.000 DDR-Vertragsarbeitern aus dem Ausland standen rund 1,6 Millionen Gastarbeiter in Westdeutschland gegenüber. Als der Autor dieses Beitrags in Leipzig studierte, war jeder vierte Studierende an der Karl-Marx-Universität ein Ausländer – nicht zuletzt eine fruchtbare Quelle von kulturell-kulinarischen Mensa-Erfahrungen.

Ohne Denken wird das nichts

„Nichts auf der Welt ist für sich genommen gut oder schlecht, erst das Denken macht es dazu“, heißt es bei Shakespeare. Auch statistische Angaben sind ohne Einordnung bedingt wertvoll oder auch nur verständlich. Den Vorsprung bei der Abiturquote noch in den 70er Jahren hat die DDR zum Ende hin laut Dokumentation eingebüßt. Aber die Arbeiter- und Bauern-Fakultäten und auch das Netz der Abendschulen mit ihren Abitur-Ausstoß wurden nicht erwähnt und auch nicht, dass berufliche Qualifizierung im Unterschied zur BRD teilweise in der Arbeitszeit erfolgte und auch nicht bezahlt werden musste. Bezogen auf das Phänomen Arbeitslosigkeit wurde auf die düsteren Phasen der BRD hingewiesen. Das gab es in der DDR praktisch nicht – um so fassungsloser reagierten die Ostdeutschen, als es ihnen nach 1990 diesbezüglich schwer an den Kragen ging.

Mangel im Überfluss

Dass sich DDR auf Mangel reimen soll, wurde immerhin beinahe scherzhaft relativiert mit dem Nachweis, dass nicht ein Mangel, wohl aber ein Zuviel an Nahrung das Problem der Bürger dieses Staates war, zumindest in seinen letzten 30 Jahren. Dies als Mangelsituation zu interpretieren, wäre den Menschen der vergangenen 20.000 Jahre als absolut widersinnig erschienen. Wie man in dem Fernseh-“Duell“ erfuhr, stopfte der DDR-Bürger mit 100 Kilogramm Fleisch pro Jahr noch zehn Kilo mehr in sich rein als der Wessi. (Und so sahen die großen Esser übrigens auch aus.) Der französische König Heinrich IV. konnte sich angesichts der DDR-Realitäten jedenfalls nur verstecken mit seinem frommen Wunsch, jeder Bauer möge am Sonntag sein Huhn im Topfe finden.

Zumindest äußerlich: Bunt besiegt Schwarz-Weiß

Die durchschnittliche Ausstattung der DDR-Haushalte mit technischen Konsumgütern rechtfertigt den Mangel-Vorwurf ebenfalls nicht, wobei laut Dokumentation die Hälfte der TV-Geräte 1989 in der DDR noch schwarz-weiß abstrahlte, das gab es im Westen zu diesem Zeitpunkt praktisch nicht mehr.

Bedenkenswert auch: Der Vorsprung der DDR im Leistungssport wurde von einem Rückstand im Breitensport begleitet. 18 Prozent der DDR-Bürger waren 1988 Mitglied eines Sportvereins, 23 Prozent waren es in Westdeutschland. Wobei nicht klar wurde, ob die Masse der DDR-Schulsportgemeinschaften da unter den Tisch gefallen war. Der ganz große Einbruch jedenfalls kam mit der Wende: Die Zahl der Ostdeutschen, die Mitglieder eines Sportvereins waren, halbierte sich binnen kurzer Zeit. Es vergrößerte sich ein (inzwischen etwas verringerter) Rückstand gegenüber den westlichen Bundesländern, der bis heute verblüffend ist. Ja, endlich sagte es mal einer: Auch im Westen gab es staatlich finanzierte und angeordnete Dopingforschung. Gerechterweise ebenfalls Thema im Film auch der große Unterschied: Der Dopingmissbrauch war in der DDR klinisch überwacht, in der Bundesrepublik Privatsache. (Daran sind westdeutsche Sportler gestorben.)

Selbstmord versus Mord

Das Thema Selbstmord ging eindeutig zugunsten des Westens aus, in der DDR nahmen sich pro Jahr 35 Menschen auf 100.000 Einwohnern das Leben, in der BRD waren es 20. Nicht beachtet wurde in der Dokumentation das ja auch nicht unwesentliche Thema Mord und Totschlag. Der Punkt wäre an die DDR gegangen, die Wahrscheinlichkeit, ermordet zu werden, war für den Westdeutschen doppelt bis dreimal höher als für den DDR-Bürger. Geradezu sensationell gut sah die DDR aus beim Thema Aufklärung schwerer Straftaten und Wiedereingliederung von straffällig Gewordenen. Ihre Rückfallquote war halb so hoch wie die der Bundesrepublik. Auch der folgende Vergleich war nicht Gegenstand der Dokumentation. Die DDR besaß mit dem Aufbau Kreisgericht-Bezirksgericht-Oberstes Gericht eine moderne, übersichtliche, verständliche Struktur, was da nach 1990 über die neuen Länder kam, der Gerichtsaufbau der alten Bundesrepublik nämlich, ist nur als mittelalterlich zu bezeichnen. Und keine Erwähnung fand die gleichsam unglaubliche Effektivität der sozialistischen Justiz: Die ganze DDR kam mit ca. 500 Rechtsanwälten aus, allein in der Stadt Potsdam sind heute rund 600 Anwälte – wie sagt man: akkreditiert?

Unrein – aber lebendig

Wieder Thema bei ZDF-Info war – natürlich zu Recht – der bedeutende Rückstand der DDR beim Thema Umweltschutz und das obwohl sie recht frühzeitig eines der modernsten Umweltschutz-Gesetze der Welt hatte und immerhin 15 Jahre vor der alten BRD ein entsprechendes Staatsministeriums einrichtete. Es stanken viele Flüsse, es stanken viele Kanäle. Bestimmt erforscht ist, warum die schmuddelige DDR verglichen mit dem Westen nur einen Bruchteil der Asthma-, Heuschnupfen- und sonstige Allergie-Fälle aufwies. Der erste Eindruck den die Ossis von den einrückenden Westdeutschen hatten, war: Die sind alle so wund. Hinzufügen hätte man an dieser Stelle auch können, dass sich in der DDR zu ihren Lebzeiten eine vielfältigere und vielseitigere Fauna und Flora erhalten hatte als in Westdeutschland. Vieles an Gekreuch und Gefleuch, was in der BRD längst ausgestorben war, hatte im DDR-Sozialismus Überlebenschancen. Leider haben sich die neuen Länder in den vergangenen 30 Jahren den alten diesbezüglich angepasst. Ihre Natur ist heute bedeutend ärmer als vor 1990. Es gilt die Formel DDR – unrein, aber lebendig. BRD: schön, aber tot.

Die Frau und der Sozialismus

Nicht vorbei ging die Dokumentation am großen DDR-Erfolgsthema Frauenpolitik, und da trennte beide deutsche Staaten Welten. 1989 waren 91 Prozent der DDR-Frauen berufstätig, das konnte man von Hälfte ihrer westdeutschen Schwestern sagen. Mehr als jedes dritte Kind kam in der DDR unehelich zur Welt – im Westen 10 Prozent. Ein überkommenes Verständnis war im Osten aufgebrochen, die Abhängigkeit der Ehefrau von Ehemann durch eine Vielzahl von Gesetzen stark verringert, die niederträchtige Benachteiligung unehelich geborener Kinder im Erbrecht Jahrzehnte vor der BRD abgeschafft. Hineingehört hätte hier die Information, das zur Wendezeit 90 Prozent der über 25jährigen DDR-Frauen auf eine Berufsausbildung, ein abgeschlossenes Fachschul- oder Hochschulstudium verweisen konnte, das hatten zu diesem Zeitpunkt nicht einmal die Hälfte der West-Frauen. Dort war das weibliche das ungebildete, abhängige, letztlich verächtliche Geschlecht.

Keine Rolle spielte im „Duell“ die Nachwuchs-Frage, aber ist denn völlig unwichtig, dass in der DDR jahrzehntelang prozentual deutlich mehr Kinder zur Welt kamen als in der alten BRD? 1990 war Ostdeutschland deshalb der mit Abstand jüngste Teil Deutschlands, das änderte sich gleichsam schlagartig. In den zehn Jahren nach der „Wende“ wurden in den neuen Bundesländern eine Million Kinder weniger geboren als in den zehn Jahren davor. Heute ist der Osten der mit Abstand älteste Teil Deutschlands. Der Lebensbaum müsste ein Dreivierteljahrhundert nach dem Krieg einer edel gewachsenen Tanne gleichen. Er gleicht aber einem Krüppelgewächs in Zeiten des Baumsterbens.

Besser keine Fazit-Vorschriften

Fazit der Filmemacher: Der Vergleich geht zugunsten der Bundesrepublik aus. Streiten wir uns jetzt mal nicht, und wer weiß, was an dieser Stelle die Zeit noch bringen wird. Sicher, die historische Widerlegung ist die vollständigste – mit dieser Feststellung hat Nietzsche einfach recht. Was ihm die DDR gab oder auch nicht, soll jeder für sich selbst entscheiden. Darauf wird der Kali-Kumpel aus Bischofferode vielleicht eine andere Antwort finden als die alsbald verbeamtete Lehrerin, der Obermaat des VEB Deutsche Seereederei eine andere Antwort als der Oberarzt. Die Dinge bleiben ohnehin in Bewegung, und „das Letzte hat noch nicht geschossen“, würde der Philosoph Ernst Bloch sagen. Der Vergleich ist das Salz in der Suppe der Betrachtung, und dass es überhaupt erst einmal zu einer solchen journalistischen Arbeit gekommen ist, dafür ist ZDF-Info ausdrücklich zu danken. Es muss halt ein vernünftiger Vergleich sein. Bertolt Brecht hat viel von ihm gehalten, hat ihn als am meisten lehrreich eingestuft. Die DDR ist Geschichte. Sie hat sich Beachtliches vorgenommen und ist damit auf bestimmten Feldern erstaunlich weit gekommen. Auf anderen nicht. Man kann schließen: Der Ostdeutsche ist 1990 nicht von der Hölle in den Himmel geraten. Das Umgekehrte stimmt aber auch nicht.

https://www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/-das-deutschland-duell-brd-gegen-ddr–100.html