Barockes Gold und DDR-Beton

Das Dresdner Tabu

Einzig der DDR ist es zu danken, dass die Sixtinische Madonna heute an der Elbe bezaubern kann

Von Matthias Krauß

Im Jahr 1967 zog eine neue Lockerheit und Vielfalt in die Briefmarkenproduktion der DDR ein. Kinderzeichnungen, Altenburger Spielkarten konnten jetzt Motive sein, auch der 450. Jahrestag des Lutherschen Thesenanschlags war drei Marken wert. Mit „König Drosselbart“ wurde das im Jahr zuvor begonnene beliebte Block-Angebot der Märchenmotive fortgesetzt. Die bis dato vorherrschende ernste, politische Motivwahl für die Marken wurde nicht unmittelbar abgelöst, aber doch ergänzt. Am 7. Juni erschien ein ungewöhnlicher Satz, einer, der auf den Boden der geschichtlichen Tatsachen zurückholte:  Die Serie „Vermisste Gemälde niederländischer und deutscher Maler“. Er riss aus einer auch für die DDR-Gesellschaft eingezogenen Selbstgefälligkeit und machte auf Verluste aufmerksam.

Einziger „Berliner“ unter den sechs Motiven war mit dem 5-Pfennig-Wert das Bild „Drei Reiter“ von Peter Paul Rubens. Es gehörte einst zur Sammlung der Staatlichen Museen Berlin, deren Schicksal zumindest vermutet werden kann. Zwischen März und April 1945, d.h. unmittelbar vor der Schlacht um Berlin, wurden 1225 Gemälde aus der Berliner Galerie  im Salzbergwerk Kaiseroda-Merkers eingelagert, sie haben den Krieg überstanden. Im vermeintlich sicheren Flakbunker Friedrichshain verblieben 434 zumeist großformatige Gemälde, darunter das genannte Rubens-Bild. Sie sind dann aber doch durch Brände zerstört worden oder verschollen. Verloren gegangen sind auf diese Weise elf Rubens-Bilder. Gelegentlich sind später einzelne, kleinere Bilder aus dem Bestand der Berliner Galerie aufgetaucht. Sie waren aber mehr Hinweis auf einzelne Plünderer, als ein Indiz für den Abtransport durch sowjetische Truppen gilt das nicht.

In der Briefmarkenserie folgten vier Gemälde der Dresdner Sammlung. Das „Trauben pflückendes Mädchen“ (Ausgabewert 10 Pf.) 1656 von Gerard Dou (Niederlande), das „Frühlingsidyll“ (20 Pf.) 1871, von Hans Thoma, das „Bildnis Bildnis der Hofopernsängerin Wilhelmine Schroeder-Devrient“ (1848) von Karl Begas, und „Junges Mädchen im Strohhut“ 1635 gemalt von Salomon Bray (Ausgabewert: 40 Pf). Schließlich erschien mit „Die vier Evangelisten“

Ausgabewert: (50 Pf) von Jacob Jordaens, Niederlande, der so genannte Briefmarken-Sperrwert. Dieses Bild stammte aus der Gemäldegalerie Dessau/Anhalt.

Aufmerksam gemacht wurde das Publikum durch diese Briefmarken darauf, dass auch die Dresdner Sammlung Verluste erlitt und das, obwohl zuvor in diesem Fall eher die Bewahrung im Vordergrund stand – übrigens auch im Briefmarken-Bereich. Während des Zweiten Weltkriegs wurden die Dresdner Gemälde ausgelagert, u. a. im Kalkwerk Lengefeld, im Tunnel der Rottwerndorfer Sandsteinwerke bei Pirna und im Cottaer Tunnel. Damit blieben sie trotz weitgehender Zerstörung der Sempergalerie 1945 durch die Luftangriffe auf Dresden erhalten. Nach Kriegsende wurden die Bilder als Beutekunst in die Sowjetunion transportiert, man sprach in diesem Zusammenhang durchaus von „Trophäen“. 1955 beschloss der Ministerrat der UdSSR die Rückgabe. Am 25. August 1955 erfolgte in Moskau die Übergabe der Dresdener Gemälde an eine Regierungsdelegation der DDR.

Von der Deutschen DDR-Post wurde der Vorgang insofern begleitet, als in den Jahren vor den „vermissten“ Gemälden vier Briefmarkensätze erschienen mit Motiven der wieder gewonnenen, d. h. aus der UdSSR zurückgeführten Bilder. 1955 fanden sich u. a. auf der Briefmarke wieder: „Bildnis eines Jungen Mannes“ von Albrecht Dürer, „Das Schokoladenmädchen“ von Jean Etienne Liotard, das „Selbstbildnis mit Saskia“ (Rembrandt) und ein Ausschnitt der „Sixtinischen Madonna“ (Raffaelo Santi da Urbino). Im Juni 1957 kamen hinzu: „Der Zinsgroschen“ (Tiziano Vecellino),

Saskia mit roter Blume (Rembrandt), „Bildnis des Morette (Hans Holbei d.J.) und „Die Tänzerin Barbarina Campani“ (Rosalba Carriera).  Und im Juni 1959 bescherte die Post ihren Kunden u. a. das „Bildnis im Kostüm einer Vestalin“ (Angelika Kaufmann), „Die Alte mit dem Kohlenbecken“ (R.P. Rubens), „Junger Mann im Schwarzen Rock“ (Frans Hals d. Ä.).

1967, im Jahr der „Vermissten Gemälde“ selbst, wurde davor noch der Briefmarkensatz „Bilder aus der Dresdner Gemäldegalerie Neuer Meister“ verkauft, darunter „Zwei Frauen aus Tahiti“, von Paul Gaugin und „Hünengrab im Schnee“ (um 1815 von Caspar David Friedrich).

Sicher war damit nur, dass trotz der Rückführungsaktionen seitens der Sowjetunion die berühmten Dresdner Sammlungen nicht vollständig erhalten werden konnten. Obwohl der Hauptbestand der Gemälde über den Krieg gerettet worden war, waren die Verluste bedeutend. 1963 zählte man 206 zerstörte und 507 vermisste Gemälde. Heute werden noch etwa 450 Gemälde vermisst.

Die Wiedereröffnung der  Dresdner Gemäldegalerie fand am 3. Juni 1956 statt, in einem Teil der noch im Wiederaufbau befindlichen Sempergalerie. Diese wurde 1960 fertiggestellt. Zwischen 1988 und 1992 wurde die Sempergalerie umfassend rekonstruiert.

1992 hob die russische Regierung die jahrzehntelange strenge Geheimhaltung der in geheimen Magazinen versteckten Beutekunst-Bestände auf. Damit zerschlugen sich letzte Hoffnungen darauf, dass die vermissten Gemälde zumindest der Dresdner Sammlungen sich doch noch auf dem Gebiet der Sowjetunion finden lassen würden. In geöffneten russischen Depots nach dem Zerfall der Sowjetunion stieß man auf keinerlei diesbezügliche Hinweise, so dass die Bilder heute als endgültig verloren gelten.

Rückblicken bleibt festzuhalten, dass die Demutshaltung der DDR in der Sache zumindest erfolgreicher war als die Pose der Bundesrepublik. Sollte das nicht der Berichterstattung über die Neueröffnung der Galerie „Alte Meister“ wenigstens einen Nebensatz wert gewesen sein?  Wäre die hochmütige und fordernde Haltung der Bundesregierungen in dieser Frage die der DDR gewesen, so wäre heute die „Sixtinische Madonna“ nicht in Dresden zu bewundern. Die Sowjetunion behielt sich Entscheidungen über die aus deutschen Museen und Sammlungen entnommenen Kunstwerke vor und hielt diese Frage jahrzehntelang bewusst offen. Nicht der Oberste Sowjet der UdSSR sondern die Duma Russlands erklärte dann in den 90er Jahren mehrfach die „Beutekunst“ zum Eigentum Russlands. Damit wurde aus russischer Sicht ein Schlussstrich gezogen.

Deutschland pochte auf einen deutsch-russischen Vertrag von 1992, in dem vereinbart wurde, „unrechtmäßig verbrachte Kulturgüter an den Eigentümer“ zurückzugeben. Russland steht inzwischen auf dem Standpunkt, dass es sein Recht war, sich der Kunstwerke zu bemächtigen, und diese eine Form der Entschädigung für deutsche Zerstörungen und Kriegsverbrechen in der Sowjetunion darstellen würden. Der – ebenfalls nach Kriegsende abtransportierte – bronzezeitliche Eberswalder Goldschatz wurde 2013 im Rahmen der Ausstellung „Bronzezeit – Europa ohne Grenzen“ in Sankt Petersburg gezeigt. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) forderte bei dieser Gelegenheit die russische Regierung dazu auf, die „geraubten“ deutschen Kulturgüter zurückzugeben.