Klima-Demo vor dem Potsdamer Landtag

So fern und in manchem so nah

Die DDR unter dem Blickwinkel von Greta Thunberg

Von Matthias Krauß

Ganz im Ernst: Die DDR wusste naturgemäß nichts von Greta Thunberg, und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weiß Greta so gut wie nichts über die DDR. Allenfalls, was die deutsche Aufarbeitungsproduktion an dieser Stelle nach Schweden exportiert hat, wobei Selbstgefälligkeit und Gedankenarmut wohl nach stärker garantiert sein dürften als man sich daheim leisten kann.

Doch lässt sich diese Armut des heutigen offiziellen Rückblicks auf diesen Staat gerade auf Gretas Feldern besonders sinnfällig machen, denn hierbei liegen sie in bemerkenswerter Häufung vor, die Gegenbeispiele, die sich eben in einem ganz anderen als dem Aufarbeiter-Sinne dem „typisch DDR“ zuordnen lassen.

Wer, wie der Autor dieser Zeilen, während seiner Studienzeit im Leipziger Hauptbahnhof die Reichsbahn verließ und erst einmal – vor allem in der trüben Jahreszeit – zehn Minuten lang diesen Mix aus Schwefel und den Abgasen von verbrannter Salzkohle in der Nase hatte (danach war man sozusagen wieder angepasst und roch das nicht mehr), der wusste: Er war auf dem Tiefpunkt der Leipziger Tieflandsbucht angekommen. Diese Riesensenke ließ die Luft schlecht abziehen, Abgase bildeten rasch eine Glocke. Die benachbarten Halle und Leuna brachten sich atmosphärisch zur Geltung. Zu Recht dichtete in seinem Lied vom Engel Gerhard Schöne: „Da flog er südwärts durch die Welt, erbrach sich über Bitterfeld.“

Die Leipziger Luft ist seither sauberer geworden, und so scheint die „Aufarbeitung“ zumindest an dieser Stelle leichtes Spiel zu haben. Es wird nur wenige Menschen geben, die es nicht ohne weiteres für völlig absurd halten, das Welt-Phänomen Greta und die schmuddlige DDR in einem Atemzug zu nennen oder gar in Zusammenhang bringen zu wollen. Das spricht aber nicht gegen Greta und auch nicht gegen die DDR, sondern weist auf eine Art neuzeitliche geistige Massenformatierung hin, bei der die DDR auf ihre negativen Seiten reduziert, der Westen auf seine positiven Seiten reduziert und diese kompakte Wertlosigkeit als Welt- oder Geschichtsbild angeboten werden. Der Vorgang beweist nichts anderes, als dass die Art und Weise der Aufarbeitung in Deutschland das Denken eher blockiert als ihm auf die Sprünge zu helfen. Denn in der Tat, es sind unter dem Blickwinkel „Greta und die DDR“ eine ganze Reihe von Aspekten betrachtenswert. Das Bild ist alles andere als einheitlich oder eindeutig.

Mitte Januar wurde bekannt, dass der Berliner Bezirk Spandau die Einführung eines neuen O-Busses testen wolle. O-Busse sind Oberleitungsbusse, wie sie beispielsweise einst durch den Potsdamer Stadtteil Babelsberg gefahren sind, und aha, denkt der alte Ossi, es ist ja interessant, dass ihr die O-Busse der DDR nach 1990 fast alle abgewrackt habt, um sie jetzt als umweltschonende und übrigens auch geräuscharme Variante des Innenstadtverkehrs wieder einzuführen.

Natürlich ist das nur ein punktuelles Beispiel und begründet keine Umwälzung in der Gesamtbewertung. Hinsichtlich umweltschonender Verkehrsvarianten ist die DDR aber wesentliche Schritte gegangen, Schritte, die sich nicht ohne weiteres unter dem Label „Runterwirtschaften“ oder dem „Marode sein“ verkaufen lassen. Ihr Netz des Öffentlichen Personennahverkehrs war ungleich dichter, der Bus fuhr – gerade in ländlichen Regionen – wesentlich häufiger als heute. 1990 waren 40 Prozent des Fernbahnnetzes der DDR elektrifiziert, also auf den Kohle- oder Dieselantrieb nicht mehr angewiesen. Ein Anteil, der höher lag als in der alten Bundesrepublik. Getreu ihrer Strategie „Mehr Transport auf dem Wasser und auf der Schiene“ betrug der Anteil des DDR-Bahntransports mindestens das Dreifache des heutigen Werts. Nach 1990 wurden tausende Kleinbahnhöfe, Verladestellen, Nebengleise, Anschlussrampen stillgelegt, mindestens zehn Prozent des Schienennetzes überhaupt, welche diese positive Bilanz abgesichert hatten. Die Einführung der Marktwirtschaft 1990 hat im großen Stil dafür gesorgt, dass ökologisch günstigeren Transportvarianten der Boden entzogen wurde.

Auch was den umweltschonenden Wirtschaftstransport auf dem Wasser angeht, lag die DDR vorn. Sie verfügte in den 80er Jahren über eine moderne Schubprahm-Flotte, ein dichtes Netz von Flusshäfen, mittels derer 15 bis 20 Prozent des Industrietransports auf dem Wasser – also deutlich ökologischer – bewältigt wurde. Heute sind es 2 bis 3 Prozent – wenn überhaupt. Die Schubprahmen wurden nach der Wende verkauft oder verschrottet. Und ebenfalls alles andere als unwichtig: Das DDR-Standardauto, der Zweitakter „Trabant“, verbrauchte weniger Kraftstoff auf 100 Kilometer als die meisten heute neu verkauften Pkw.

Natürlich hängen diese Dinge mit der DDR-Planwirtschaft zusammen, mit Überlegungen und Strategien, denen zufolge die Dinge auch im großen Stil zueinander passen und miteinander harmonieren müssen. Die heute so übel beleumdete Staatswirtschaft konnte an dieser Stelle tatsächlich mehrere wirkliche und wichtige Vorteile ausspielen. Eine Situation wie die gegenwärtige, wo der Norden der Nation mit seinen Windrädern überflüssigen Strom produziert, der im Süden nicht abgenommen wird, weil einfach die Zuleitungen fehlen, wäre in der DDR schwer vorstellbar gewesen.

1979 ging das Pumpspeicherwerk Markersbach (damals Bezirk Karl-Marx-Stadt) ans Netz, lange Zeit mit einer Leistung von 1.050 MW der Champion unter den artgleichen Bauwerken in Deutschland und auch heute immer noch eines der größten seiner Art weltweit. Das Prinzip: In Zeiten des Strom-Überangebots wird Wasser in ein höher gelegenes Becken gepumpt und wenn ein Strombedarf besteht, treibt das niederschießende Wasser die stromerzeugenden Turbinen an. Auch dies ein Beitrag zum sinnvollen Strommanagement.

Von den 60er Jahren an wurden in der DDR – zumindest dort, wo es sich anbot –  im großen Stil Industrie-Abwärme zur Heizen von Wohngebieten genutzt. Ein frühe Beispiel war Hennigsdorf-Nord, ein Neubaugebiet, das sich vom örtlichen Stahlwerk wärmen ließ. Das sozialistische Zusammenspiel von Industrie- und kommunaler, räumlicher Planung machte dies möglich, es war die Planung aus einem Guss. Angesichts der verschiedenen Eigentümerinteressen, die niemand unter einen Hut bekäme, ein Wunschtraum, ein Unding in der heutigen Zeit.

Auch die Smogglocke über dem Industriegebiet Halle-Leipzig ließ die DDR-Führung nicht so unbeeindruckt, wie man glauben mag. In Stendal wurde ein Atomkraftwerk projektiert und gebaut, das die halbe DDR mit Strom versorgt und einen Großteil der Braunkohleverstromung ersetzt haben würde. Zweifellos war das eine Entscheidung, die heute anfechtbar sein müsste, da viele wissen, was nicht geht aber die wenigsten, was eigentlich geht. Aber es war ebenso zweifellos eine Entscheidung in ihrer Zeit. Sie sollte der Kohlendioxydemission, der schlichten Kohleverstromung, entgegenwirken. So wäre es auch gekommen, genauso wie in den 50er Jahren die Entscheidung umgesetzt worden ist, die im sächsischen Industriegebiet lebenden Menschen mit sauberen Wasser aus den Talsperren des Harz zu versorgen.  

Was müsste ferner Gretas Aufmerksamkeit erregen: Gegenüber den DDR-Jahren hat sich das Hausmüllaufkommen in Ostdeutschland nach 1990 verdreifacht. Noch einmal gesteigert wurde dies durch die zusätzlichen Unmengen an Verpackungsmüll, wie sie durch dieses unselige Internet-Bestellsystem entstehen. Von den gigantischen Müllbergen, die durch die zeitgenössische Werbewirtschaft gebildet werden, ganz zu schweigen.  Die Forderung, auf Plastetüten zu verzichten – und das ist jetzt fast witzig – ist etwas, womit die DDR aufwarten konnte, dem Autor dieser Zeilen war es als Kind verboten, solche Tüten mit in seine Schule zu bringen. Dabei waren natürlich weniger ökologische als vielmehr ideologische Gesichtspunkte ausschlaggebend. Kinder sollten nicht als Werbeträger für West-Waren in den Schulen auftreten. Am Ende produzierte auch die DDR solche Tüten, aber in einem Umfang, der gemessen am heutigen unbeträchtlich zu nennen wäre.

Obst und Gemüse wurden seinerzeit in Papiertüten verpackt und verkauft, das müssten Gretas Jünger ja regelrecht schillernd finden. Kommt auch das jetzt wieder? Die rot-grüne Bundesregierung zwischen 1998 und 2006 ist in die Geschichte eingegangen mit dem ersten deutschen Angriffskrieg nach dem Zweiten Weltkrieg, mit der Erfindung von Hartz IV, mit der weitgehenden Abschaffung der Bankenkontrolle und einer Energiewende, welche die Rentnerin Klauke bezahlen muss, aber nicht die Energiekonzerne. Doch diese linkeste aller bisherigen Bundesregierungen hat noch etwas anderes zu verantworten: die Einführung eines Pfandflaschensystems nach dem Vorbild der DDR. Das macht die anderen Dinge nicht ungeschehen, ist aber dennoch zu begrüßen. Wenn auch die Inkonsequenz auf der Hand liegt. Richtig – die Millionen in der Landschaft vergammelnden Büchsen gibt es faktisch nicht mehr – eine eigenartige Rückkehr zu den DDR-Gegebenheiten, in denen die „Büchse Bier“ kein Begriff und so ungewöhnlich war, dass er dem Gewerkschaftschef Harry Tisch übel vermerkt wurde, als ihm dieses Wort einmal in einem Interview herausrutschte. Die 8 Cent Pfandgeld für die Bierflasche können den 30 Pfennigen zu DDR-Zeiten nicht das Wasser reichen. Vor allem aber – das Rücknahmesystem erstreckte sich zu DDR-Zeiten auch auf Wein- und Schnapsflaschen, auf Gemüsegläser, Papier, Alttextilien und Schrott. Ein dichtes System der Annahmestelle überzog das kleine Land. Die dabei gezahlten Preise wurden in Abständen erhöht, weil das Interesse an der Rückgabe ein ungebrochenes sein sollte. Nichts durfte verlorengehen. Alte Autobatterien waren regelrecht kostbar, sie wurden ob ihres Bleigehalts von Käufer und Verkäufer geschätzt und hoch bezahlt. Die DDR hatte ein wirkungsvolles System der Wiedergewinnung installiert, zu dem uns heute nun nachgerade alles fehlt.

Der ganze Vorgang wurde Anfang der 70er Jahre modernisiert und auf zeitgemäße Füße gestellt. Das Logo „Rumpelmännchen“ der ersten DDR-Jahrzehnte wich dem volkseigenen Kombinat SERO (Sekundärrohstoffe), das im nationalen Maßstab, in großem Stil und bei Einsatz moderner Methoden der Rückgewinnung eine – vergleichsweise – brillante Form der Nachhaltigkeit darstellt.

Selbst Grünen-Politiker – einer besonderen DDR-Vorliebe unverdächtig – räumen ein, dass Dünger- und Pestizideinsatz in der DDR deutlich geringer waren als nach der Wende. In der Enquetekommission zur Aufarbeitung der Aufarbeitung, wie sich der brandenburgische Landtag sie sich zwischen 2009 und 2014 leistete, wurde ermittelt, dass die Feldfrüchte in den LPG-Jahren vielseitiger, reichhaltiger und die Fruchtfolge artgerechter erfolgte als in den Monokulturen der Nachwendezeit. Die Tier- und Pflanzenwelt Ostdeutschlands war in den DDR-Jahren wesentlich vielfältiger als heute. Damals: räudig, aber lebendig, heute: schön, aber tot. Merkwürdig zudem: Luft und Wasser wurden nach 1990 immer sauberer, Allergien bei den Ostdeutschen gibt es heute viermal mehr als damals. Ihre Körper verhalten sich, würde ihre Umwelt immer giftiger.

Die DDR war keine Wegwerfgesellschaft, sie war eine Reparaturgesellschaft. Unter dem Blickwinkel der Nachhaltigkeit wäre das ein Lob wert. Die Dinge, welche die Menschen zum Teil teuer bezahlen mussten, sollten lange halten. Das taten sie auch – zum Teil bis heute – und das erwarteten die Menschen. Der polytechnische Unterricht in der Schule versetzte die DDR-Bürger zudem in die Lage, Reparaturen selbst auf einem beträchtlichen Niveau vorzunehmen. Erleichtert wurde ihnen das durch die DDR-typische weitgehende Standardisierung der eingesetzten Bauteile, die dem Wegwerfen zusätzlich entgegenwirkte. Dagegen achten Produzenten heute streng darauf, dass ein Austausch von Baugruppen mit denen anderer „Mitbewerber“ nicht möglich ist.  

Lichtverschmutzung, also die nächtliche Lichtüberfülle, war auch nicht etwas, dessen sich die DDR in besonderem Maße zu zeihen hätte. Der Volksmund verarbeitete die Realität auf diesem Gebiet zum Witz: „Die DDR ist der einzige Staat der Welt, der den Mond konsequent zu friedlichen Zwecken nutzt.“ „Zu welchen denn?“ „Zur Straßenbeleuchtung.“

Spätestens in diesem Stadium des Gedankenaustauschs wird mir erleichtert entgegengehalten, dass dies alles irgendwie und irgendwo zwar stimme, aber eben letztlich doch nur dem „Mangel“ geschuldet sei, wie er in den DDR-Jahren geherrscht habe. Nur – nicht einmal wenn dies vollkommen wahr wäre – es ist zum Teil wahr – wäre das aus Gretas Sicht einen Vorwurf wert, denn sie hat ihre Forderungen nicht unter einen Reichtums- oder Armutsvorbehalt gestellt. In Gretas Denken gibt es keine Einteilung in höherwertig oder minderwertig bei Nachhaltigkeit, Umwelt- und Ressourcenschutz. Und diese Dinge waren damals nicht nur Mangel-Resultate, sondern auch Ergebnisse vernünftiger Überlegungen und bewusste Wirtschaftspolitik: „Aus jedem Gramm Material, jeder Kilowattstunde und jeder Arbeitsstunde einen höheren Nutzeffekt“

Natürlich wäre es Quatsch, als Fazit nun anbieten zu wollen, dass die DDR Gretas Utopie schon mal in die Wirklichkeit umgesetzt habe. Und Greta wird höchstwahrscheinlich auch nicht demnächst im FDJ-Hemd auftreten. Von den stinkenden Flüsse gab es nicht wenige, das Benzin-Öl-Gemisch des Trabant-Kraftstoffs hat bei der Verbrennung noch ganz andere Stoffe in die Umwelt abgegeben als Kohlendioxyd. Weil es keine diesbezüglichen Mess-Armaturen in den Neubauwohnungen gab, war der Verschwendung von Wasser Tür und Tor geöffnet. Und die Zimmertemperatur wurde nicht selten mit dem Fenster reguliert. Dennoch: Viele und keineswegs unwichtige Dinge im Bereich Ressourcenschutz, Ökologie und Wiederverwendung haben in diesem Staat sehr gut funktioniert. Die DDR hat sich Großartiges vorgenommen und ist auf verschiedenen Feldern beachtlich vorangekommen. Wenn es wirklich in dieser Welt zu einer ökologischen Wende kommen soll, dann wird man die gesamtgesellschaftlicher Planung und Leitung wohl oder übel aus der Mottenkiste des DDR-Sozialismus holen, etwas abstauben und ihr eine neuzeitliche Form geben müssen. Der zeitgenössischen „Aufarbeitung“ stünde gut zu Gesicht, anzuerkennen, dass sich seither eben nicht nur Dinge verbessert haben, sondern sich auch vieles messbar verschlechtert hat.

Mehr in: „Die Große Freiheit ist es nicht geworden“, Matthias Krauß, Verlag Das Neue Berlin, 256 S. 14,90 Euro. x