Von Caligari zu Corona

Oder: Wer vom Teufel spricht, erhält Besuch von ihm

Von Matthias Krauß

Gibt es die sich selbst verwirklichende Prophezeiung? Muss die Katastrophe nur intensiv genug beschwatzt und beschworen werden, um sie herbeizurufen? Unsere – angeblich – rationale Welt verweist das eher ins Reich der Legende, sie traut Zahlen und Fakten. Dem Aberglauben, dem Mystischen traut sie nicht. „Wir alle, oder doch die meisten von uns, sind Mündel jener Wissenschaft des 19. Jahrhunderts, die allem die Existenz absprach, was sich nicht messen oder erklären ließ. … Und so wurde ein großer Teil der Welt Kindern und Unmündigen, Schwachsinnigen, Narren und Mystikern überlassen“, schrieb John Steinbeck in seinem Roman „Geld bringt Geld“. Der lässt sich als eine literarische Ergänzung zum „Kapital“ von Karl Marx lesen.

Als eine Art Mystik des Kapitalismus. Ist es so, dass man sich vom Horror dauerhaft faszinieren lassen muss, um ihn dadurch herbeizurufen und leibhaftig zu erleben? 1947 erschien das Buch „Von Caligari zu Hitler“, 1958 ins Deutsche übertragen, in dem Siegfried Kracauer diese Frage aufwarf. Der zurückgekehrte Emigrant verfolgte darin die „Ahnengalerie des Schreckens bis zu ihren Anfängen zurück“. Er setzte die Horror-Show des deutschen Kinos der 20er Jahre in Beziehung zur Errichtung der späteren Hitler-Diktatur und begründete damit seinen überwältigenden Erfolg und seinen kaum steigerbaren Einfluss auf die westdeutsche Filmkritik.

Was blieb, war und ist die Ausgangsfrage: Hat Deutschland 1933 nur verwirklicht, was seine Filmkunst Jahre zuvor ahnen und erschauen ließen? Mal abgesehen davon, dass die heute gängigen Vorstellung von der „guten“ Weimarer Republik und die sie danach fressende Nazi-Diktatur eine mindestens zum Teil konstruierte ist – denn sehr vieles, was den Faschismus später ausmachte, hat sich in diesen Weimarer Jahren entwickeln können, mit 550 politischen Morden, sechs Millionen Arbeitslosen, mit wirklichem Hunger, einem um sich greifenden Antisemitismus, einer schamlosen Klassenjustiz, einem unablässigen Wahl-Marathon, der nichts verbesserte, war diese Republik für Millionen Deutsche Schrecken genug. Nicht wenige betäubten sich in jenen Jahren abends im Kino, das war Erholung und Aufreizung zugleich. Und es war vergleichsweise billig. Die Filmkunst, diese damals neue Kunst, wandte sich an das breite Publikum gerade der ärmeren Schichten, es wurde experimentiert und ausprobiert, wiederholt und verworfen zu einer Zeit, als die Filmkritik noch nicht im Feuilleton der Zeitungen platziert, sondern in Lokalteil.

Der deutsche Studiofilm dieser Jahre war nach damaligen Begriffen einen Monstershow. „Der Golem“ „Dr. Mabuse“, „Das Kabinett des Dr. Caligari“ nur die bekanntesten, nicht die einzigen in einer Reihe von monströsen Film-Ereignissen, die in den rund 4000 deutschen Kinos der damaligen Zeit auf die Menschen eindrangen. Stand die dem folgende Nazidiktatur nur in einem zeitlichen oder auch in einem inhaltlichen Zusammenhang? Wer vom Teufel spricht, erhält Besuch von ihm, sagt der Volksmund. Wer den Horror ständig beschwört, der hat ihn irgendwann nicht als Zaun- sondern als Stubengast. Der deutsche Studiofilm in den 20er Jahren war einige Zeit (v. a. 1919) durch gar nichts gezügelt, später galt eine Gesetzgebung, welche den Kampf gegen „Schund und Schmutz“ aufnehmen sollte. Kurt Tucholsky lehnte diese gesetzliche Zensur für Literatur und Malerei mit der Begründung ab, dieses Gesetz falle unter sich selbst. Dagegen begrüßte er die Filmzensur ausdrücklich und leidenschaftlich. Was ihn nicht daran hinderte, sich vom „Caligari“ faszinieren zu lassen. „Ein Mord wird sichtbar – als Schattenspiel an einer grauen Wand. Und zeigt wieder, wie das Geahnte schrecklicher ist als alles Gezeigte.“ Der von ihm gefeierte Ausgangspunkt: „Ein Wahnsinniger erzählt einem Kollegen der gleichen Fakultät sein Schicksal.“ Der Schriftsteller vermag sich kaum zu zügeln: „Der Film spielt – endlich!, endlich! – in einer völlig unwirklichen Traumwelt“. Muss man an dieser Stelle darauf verweisen, das „Wahnsinn“ ein zentraler Begriff der Entwicklung war, wie sie 1989/90 einsetzte? Wann war in Deutschland in den Zeiten davor „Wahnsinn“ je ein positiv besetztes Wort?

Erwähnenswert ist, dass es der Doktor, also der Intellektuelle, ist, der vielfach in diesen Filmen die Schreckenskammern öffnet und in der Tat vorwegnimmt, dass der Faschismus in Deutschland vor allem auch ein intellektuelles Ereignis war. Nicht die Leidenschaftsbestie, sondern die Intelligenzbestie war Träger und auch Inspirator des realen Grauens. Ein Umstand, der in der DDR ausführlich untersucht worden war, in der Bundesrepublik eher zögerlich. Denn das hätte Fragen aufgeworfen nach der Kontinuität der „Eliten“ über ’33 hinaus. Die war so unbestreitbar wie die Kontinuität ihrer Herrschaft über 1945 hinaus. Dergleichen Fragen waren in der BRD eher unbeliebt – jedenfalls so lange die Antworten darauf noch praktische Wirkungen hätte haben können. Anders wurde das erst, als die Nazi-Opas, die Nazi-Väter, die Nazi-Onkel gesichert in den Kissen der Höchstpensionen saßen. Bruchlos ging es in beiden Zäsuren für die deutschen Machteliten weiter, für eben diese schuldbeladenen und blutbesudelten Machteliten. Massenhaft abgerechnet wurde lediglich nach 1990 mit der marxistischen geprägten Intelligenz, die aus der DDR stammte.

Aber ist es wirklich so, dass diese Beschwörung des Schreckens im Kino den Schrecken selbst erzeugt hat? Und vor allem: Was würde das für uns bedeuten, die wir von Mörder- und Monsterfilmen im TV- und Kino heimgesucht werden, was das Zeug hält? „Irgendwann werde ich durchsehen oder 30 Programme in Farbe schau’n“, sang einst die DDR-Kultband „Pension Volkmann“. Dem Kino müsste man vielleicht keinen bedeutenden Stellenwert mehr einräumen. Allerhöchstens drei Prozent der Deutschen gehen heute noch ins Kino, es wäre in der Tat verwegen, von hier aus auf reale Schreckenskonstellationen zu schließen. Anders mit dem im Unterschied zur Weimarer Republik zwischen verbreitete Fernsehen. Es würde nicht schwer fallen, der Vielzahl der empfangbaren Programme eine Einfalt und Reduzierung der Themen entgegenzustellen, einer Darstellung reduziert auf Schnulze und Horror. Dazu muss die seltsame Fixierung dieser Darstellung auf die Kriminalität in der Gesellschaft hervorgehoben werden. Das heutige Leben wird im Film vor allem unter dem Aspekt von Mord und Totschlag wahrgenommen, wobei das Immergleiche der Konstellation allen Menschen mit Ansprüchen nur noch Brechreiz verursachen kann. (Man vergleiche das mit dem thematischen Reichtum des DDR-Spiel- und Fernsehfilms.) Und da mag heute zwischen privaten Stationen und öffentlich-rechtlichen Rundfunk unterscheiden wer will. Zur besten Kinder-Fernsehzeit werden Sendungen wie „Morden im Norden“, „Mord ist ihr Hobby“ und ähnliches ausgestrahlt. Nicht nur in der DDR, auch in der alten Bundesrepublik war dergleichen vor 30 Jahren noch undenkbar. Ganz zu schweigen davon, was auf die Erwachsenen wartet. Wurden die filmischen Kontrahenten im vergangenen Jahrtausend in der Regel noch einfach erschossen, so tritt an diese Stelle eine Darstellung, die das Zerfetzen des Menschen zelebriert. In der Harry-Potter-Ära sind ja selbst Kindersendungen eine Schock- und Schreckensaufruf, gegen die „Dr. Mabuse“ oder die „Hexer“-Filme der 60er Jahre geradezu kindisch wirken, voller Spuk und Horror, was schon Goethe als „widersinnig, lachhaft und verrückt“ verurteilt hatte.

Die Schwellen zum Unsagbaren und Unzeigbaren wurden immer weiter verschoben. Nun ist mit Corona der Schrecken in das virtuelle, zunehmend aber auch in das reale Leben getreten. Die gesicherte, abgezirkelte, berechenbare Existenz ist unmittelbar bedroht. Der Zukunftsblick schmerzt. Der auf der Leinwand beschworene Horror – und immerhin der Westen hat diesen Horror in den vorhergegangenen 150 Jahren anderen Völkern und Kontinenten nach Kräften verordnet – scheint nun auch auf uns zu warten. Jetzt steht er auch für den scheinbar unverwundbaren Westen selbst nicht mehr hinter dem Berg, sondern hinter der Tür. Dass Hitler eine unmittelbare und direkte Folge des Kinoprogramms gewesen sei – so weit ging am Ende dann auch Siegfried Kracauer nicht. Möglicherweise wäre es in der Tat abwegig, von der faschistischen Diktatur auf die Filminhalte der 20er Jahre zu schließen. Und es wäre zu prüfen, ob dieses Programm in anderen Weltteilen der damaligen Zeit wirklich ein völlig anderes war. Was aber bleibt ist, dass die Spezialität des Studio-Schockers eine deutsche war. Sich abhebend vom Hollywood-Film der in seinem Happyend eben „gut“ ausgeht, also unrealistisch, während das düstere Ende mit Blick auf die Realität den Realismus für sich beanspruchen kann. Und es existiert auf einer anderen Ebene die Beziehung zwischen filmischer Fiktion und Wirklichkeit. Der Filmwirtschaft liegt zum geringsten Teil ein pädagogisches Programm zugrunde, sowohl in der Weimarer Republik als auch in der heutigen gab und gibt niemanden, der dem Film als Warnruf oder das Denken beeinflussen aufladen will. Das war in der NS-Zeit und auch in der DDR anders – bei freilich entgegengesetzter Zielstellung. Aber schon Kracauer wies prominent darauf hin, dass der Produktionsaufwand für Filme hoch ist und sich das Produkt im Kapitalismus entsprechend verkaufen muss. Nicht allein, dass Drehbuchschreiber und Regisseure auf unterbewusste Wünsche im Publikum in ihrer Arbeit Rücksicht nehmen, bei Strafe der Pleite, des Misserfolgs, sind sie gezwungen, diese umfassend zu bedienen. So gesehen beeinflusst nicht der Film die Publikumsmassen, sondern diese Massen beeinflussen ihn. Nicht die Aufklärung oder die Belehrung sind Trumpf, sondern die Unterhaltung, die – gleich einem Narkotikum – in immer stärkere Dosen verabreicht werden muss.

Es ist also abwegig, eindimensional von Kinoprogramm der 20er auf die faschistische Diktatur zu schließen. Das gilt ebenso für heutige Flimmerstunden. Aber die Ahnung des verlorenen Spiels im tiefsten Grunde, die immerhin findet sich vorgezeichnet. „Utopien haben ihren Fahrplan“, wusste schon Ernst Bloch. Der Philosoph beschäftigte sich mit dem Phänomen, das die Menschen sich in ihrem Kopf mit Dingen befassen, z.T. lange bevor sie sein Leben bestimmen. Warum sollte das für Schreckensutopien nicht gelten? Ja, man kann soweit gehen, dass in den künstlerischen Themen eine Vorahnung aufscheint. Und wenn das so ist, dann blüht uns allen noch etwas.