„Der verächtlichste aller Päpste“

Rolf Hochhuth im DDR-Literaturunterricht/Von Matthias Krauß

Es gab wenige westdeutsche Politiker, die in der DDR ein so hohes Ansehen genossen wie Richard von Weizsäcker. Das schloss die Partei- und Staatsführung mit ein. Ihr war bewusst, was sie einem Mann verdankte, der den Mut aufbrachte, gegen den Hass aus den eigenen Reihen im Bundestag vom 8. Mai als „Tag der Befreiung“ zu sprechen. Eine solche Deutung war 1985 keineswegs geistiges Gemeingut in der westdeutschen CDU und nach diesem – an sich längst überfälligen – Akt war das Prestige Richard von Weizsäckers in der DDR kaum steigerbar. Vor allem, als von Weizsäcker zum Bundespräsidenten gewählt wurde, war daher auch von ostdeutscher Seite Fingerspitzengefühl in einem heiklen Punkt nötig. Denn es gab eine Achillesferse des CDU-Politikers, und die betraf seinen Vater. Ernst Freiherr von Weizsäcker war als hoher Nazidiplomat, Staatssekretär im Auswärtigen Amt und späterer Botschafter Hitlers beim Vatikan laut Brockhaus „in die Kriegsvorbereitungen und Judenverfolgungen verwickelt“. Richard von Weizsäcker, der seinen Vater in Nürnberg vor Gericht verteidigte (Wilhelmstraßenprozess 1949) hat dieses Urteil niemals akzeptiert. Der Angeklagte wurde damals zu sieben Jahren Haft verurteilt, aber – wie so viele von Hitlers willigen Vollstreckern in hohen Positionen – kurze Zeit später begnadigt.

Im Falle seines Vaters versteifte sich Richard von Weizsäcker auf die Unschuldsbeteuerung, allen Beweisen zum Trotz. Noch am 16. Dezember 2003 erklärte er in den ARD, schließlich habe es auch Winston Churchill als „tödlichen Irrtum“ der Amerikaner bezeichnet, seinen Vater anzuklagen. Und niederschmetternd musste da auf ihn das bekannteste und umstrittenste Drama des Dichters Rolf Hochhuth (gestorben 2020) gewirkt haben, das 1963 unter der Regie von Erwin Piscator in Westberlin uraufgeführt wurde. „Der Stellvertreter“ hieß das erschütternde Zeitstück, das in Klasse 12 auch im Hennigsdorfer DDR-Deutschunterricht seine beklemmende Wirkung entfaltete. Alles Surreale, Paradoxe, Abstrakte, Absurde, mit dem die westdeutsche Kunst jener Tage so gerne – sich in ihrer Modernität spreizend – die politischen und moralischen Fragen der Zeit umschlich, wurde mit diesem Werk beiseite geschoben. Hochhut hält die Welt für erkennbar und beschreibbar, er verhandelt das Verhältnis von Politik und Moral und zwar anhand einer erst kurze Zeit zurückliegenden geschichtlichen Szene. Er entfaltet das Drama in einer Institution, welche für sich in Anspruch nimmt, Gralshüter der Moral zu sein. Hochhut scheut dabei weder Namen noch Adressen. Die Beziehungen von Katholischer Kirche und Faschismus sind sein Thema und wie sich diese Beziehungen vor dem Hintergrund der Judenverfolgung und -vernichtung entwickelten. Der Dichter verzichtet zwar darauf, Botschafter von Weizsäcker als Figur direkt aufzustellen – im Unterschied zu anderen historischen Personen wie dem Papst Pius XII., dem katholischen Nuntius (Gesandter des Papstes) in Berlin, und Judenmörder Adolf Eichmann ist Ernst Freiherr von Weizsäcker keine im „Stellvertreter“ auftretende Gestalt. Aber in dem Stück, das die Haltung des katholischen Führungszirkels in der ersten Hälfte der Vierzigerjahre beleuchtet und einer vernichtenden Bewertung unterzieht, war oft genug von Hitlers Botschafter von Weizsäcker die Rede, in einem Sinne, der Sohn Richard nicht gefallen konnte.

Gleich im ersten Akt heißt es bei Hochhuth: Ernst Freiherr von Weizsäcker, Staatssekretär im Auswärtigen Amt bis Frühjahr 1943, dann Hitlers Botschafter beim Heiligen Stuhl, nennt den Nuntius einen real denkenden Milanesen, der es gern vermied, ausweglose Differenzen der Kurie mit dem Dritten Reich bis ins Grundsätzliche zu steigern. Auch bescheinigte er, dass Orsenigo es fertigbrachte, seine Beschwerden – man sprach etwa über polnische Geistliche in Hitlers Konzentrationslagern – der deutschen Reichsregierung bei ruhigem Gemüt, in freundschaftlicher Art und Weise vorzutragen.

Oder, wenn der päpstliche Nuntius in Berlin jammert:

Interveniere ich exempli causa

gegen Unrecht im geteilten Polen – und

ich beschränke meine Klagen schon auf Schikanen

gegen Priester -, so werde ich von Herrn von Weizsäcker

höflich hinauskomplimentiert: Nicht zuständig.

Wir sollen erst die neuen Grenzen anerkennen.

Für Juden konnte ich nur sprechen,

wenn sie getauft sind.

Das erschütternde Drama „Der Stellvertreter“ endet dann auch mit dem Bericht Ernst von Weizsäckers vom 28. Oktober 1943 an das Auswärtige Amt in Berlin, einem Bericht, der, mit heutigen Augen gelesen, alle Kriterien für ein Bekennerschreiben erfüllt:

(Regieanweisung Hochhuth für den Abspann: Hier schaltet sich, während der Widerschein der Flammen immer tiefer in sich zusammensinkt, das gravitätisch gepflegte Organ eines wohlerzogenen älteren Gentleman der Politik ein.) Zitiert wird von Weizsäcker: Der Papst hat sich, obwohl dem Vernehmen nach von verschiedener Seite bestürmt, zu keiner demonstrativen Äußerung gegen den Abtransport der Juden hinreißen lassen. Obgleich er damit rechnen muss, dass ihm diese Haltung von seiten unserer Gegner nachgetragen wird, hat er auch in dieser heiklen Frage alles getan, um das Verhältnis zur deutschen Reichsregierung nicht zu belasten. Da hier in Rom weitere Aktionen in der Judenfrage nicht mehr durchzuführen sein dürften, kann also damit gerechnet werden, dass diese für das deutsch-vatikanische Verhältnis unangenehme Frage liquidiert ist…

Die Schule im atheistischen Staat musste an dieser Stelle nur wenig kommentieren, sie beschränkte sich beinahe auf das Zitieren. „Der Stellvertreter“ ist ein Stück über das Schweigen und das Nicht-Handeln. Das ist aber nicht privat gemeint etwa im hamletschen Sinne. Papst Pius XII. schweigt nicht allein, als sein Nuntius am 8. November 1938 Augenzeuge des Terrors gegen den jüdischen Bevölkerungsteil in Deutschland wurde, nicht allein, als Hitler fast ganz Europa unter seinen Stiefel brachte, er schweigt, als die Berichte über die Vernichtungslager von niemandem mehr zu bezweifeln waren und selbst dann noch, als die SS in Rom unter seinen Augen die Juden zusammentrieb, um sie in die Vergasung zu transportieren. In den „Historischen Streiflichtern“ am Ende des Dramas vermag sich Hochhuth kaum zu zügeln:Warum, so fragt man sich hier wieder, hat der Papst diese seine Macht nicht eingesetzt, um der Menschlichkeit den Weg zu ebnen! Vielleicht haben niemals zuvor in der Geschichte so viele Menschen die Passivität eines einzigen Politikers mit dem Leben bezahlt.

Aus den Mitschriften geht hervor welche Haltungen und Argumente in dieser todernsten Sache nach dem Verständnis der DDR-Schule einander gegenüberstanden. Ausführlich sind im Deutschunterricht Pro und Contra erörtert worden:

– Wie hätte denn ein Protest des Papstes bekannt werden können? Schließlich kontrollierte Hitler alle Medien, es wäre ihm ein Leichtes gewesen, das als „Feindpropaganda“ abzutun.

Antwort: Nein. Die geschichtliche Erfahrung hat gezeigt: Nachrichten sind letztlich immer durchgekommen auch illegale und sogar bis ins KZ hinein. Feldgeistliche hätten eine solche Botschaft des Papstes verbreiten können, sie hatten direkte Verbindungen zum Vatikan wie auch zu den Soldaten. Und schließlich existierte der Vatikansender als eigenständiges Medium.

– Es ist wahrscheinlich, dass sich Hitler von seinen Mordexzessen nicht hätte abhalten lassen.

Antwort: Wahrscheinlich nicht, aber das faschistische Regime hätte Positionen verloren, wäre ein Stück unglaubwürdiger geworden. Religion wirkt stärker als faschistische Ideologie. (Als Gegenbeispiel lobte der Deutschlehrer ausdrücklich den damaligen dänischen König: Er „drohte Hitler, selbst den Judenstern zu tragen sowie seine ganze Familie und der Hofstaat wenn die dänischen Juden auch verfolgt würden“. Die Verfolgung unterblieb, die dänischen Juden konnten sich zumeist nach Schweden retten.)

– Ein solcher Appell des Papstes hätte Millionen Gläubige in Gewissenskonflikte gestürzt.

Antwort: Gewissenskonflikte hatten sie auch so schon eine Menge. Für viele wäre ein Papstprotest die Bestätigung eines insgeheimen Zweifels gewesen. (Etwas besseres gibt es doch gar nicht.)

– Die Kirche wäre bedroht gewesen.

Antwort: Eine solche Entgegnung ist im Kern verantwortungslos. Die Kämpfer gegen den Faschismus waren alle bedroht.

– Kirchliche Hilfswerke wären zerschlagen worden.

Antwort: Die Wirkung einer solchen Note wäre viel größer gewesen. Hitlers Mittel zum Terror waren nicht unbegrenzt.

Dass es neben dem Pater Ricardo Fontana ausgerechnet ein SS-Obersturmbannführer ist, welcher den Papst an seine Pflicht erinnert, dem Massenmorden nicht wort- und tatenlos zuzusehen, hat einen historischen Hintergrund. Denn dieser Kurt Gerstein hat tatsächlich gelebt, in den schulischen Notizen ist von einer „wirklichen historischen Figur“ die Rede, von einem „Antifaschisten in der SS“, der „sehr mutig“ für die todgeweihten Juden eingetreten sei. Aus innerer menschlicher Überzeugung sei er der SS beigetreten. Bezeugt sei sein Satz: „Mit Broschüren kann man die nicht bekämpfen“. Er verschwieg bei seiner Aufnahme in den „Orden“, dass er zu Beginn der Nazidiktatur im Konzentrationslager gesessen hatte. Gerstein wollte in den inneren SS-Führungszirkel gelangen, um von dort wirkungsvoll gegenzusteuern. Das hat er nach der Befreiung mit dem Leben bezahlt. Zwar konnte er noch Bericht geben, doch „verliert sich seine Spur in einem Pariser Gefängnis“. Er sei in Paris erschlagen worden, was auf einen „Irrtum“ zurückgegangen sei, vermerkt der Hefter.

Hochhuth hat kein antikirchliches oder antikatholisches Stück verfasst und in der DDR-Schule hat das auch niemand herausarbeiten wollen. Seine „positiven Helden“ sind schließlich bekennende, überzeugte Katholiken. Im Klappentext des Buches, herausgegeben von Verlag Volk und Welt 1968, heißt es unter anderem:

Rolf Hochhuth, ein Unbekannter, hat es gewagt, den Nimbus von Pius XII. zu zerstören, dessen Schweigen angesichts der Judenverfolgung als moralische Schuld zu definieren. Zahllos sind inzwischen die Proteste von kirchlicher Seite wie die Rechtfertigungen von Stück und Autor. Uns berührt dieser Streit um die Integrität des Papstes nur wenig, unvoreingenommen können wir die Absicht des Autors erkennen: Pius XII. ist für Rolf Hochhuth der Anlass gewesen, den Widerspruch zwischen Anspruch und Erfüllung christlicher Forderungen aufzudecken.

Der Autor setzt das Verhalten des Papstes, dessen Hofstaats und das der hohen Laien in Kontrast zu den Entschlüssen der bekennenden Katholiken Gerstein und Fontana. Letzterer begleitet die italienischen Juden auf ihrem Transport ins Gas. Ein „lebendiger christlicher Humanismus“ steht hier laut schulischer Anmerkung kalten klerikalen Machterwägungen gegenüber und natürlich der faschistischen Grausamkeit. Noch einmal der Klappentext: Stellvertreter im doppelten – positiven – Sinne ist nach dem Willen des Autors der junge Pater Ricardo Fontana, der an Stelle eines jüdischen Häftlings freiwillig ins KZ geht und dort stirbt. Ihm lädt Hochhuth das Kreuz auf, vor dessen Last Pius XII. zurückgeschreckt war: Gegen das Verbrechen aufzubegehren und selbst den Tod nicht zu scheuen. Ein antireligiöses Werk kann der „Stellvertreter“ auch deshalb nicht sein, weil es gewidmet ist dem Andenken an den Berliner Prälaten Bernhard Lichtenberg und dem polnischen Pater Maximilian Kolbe, die wegen ihres Eintretens für Menschlichkeit im faschistischen Konzentrationslager einen grausamen Tod fanden.

Wortlaut der zusammenfassenden Mitschrift nach der Deutschstunde im September 1977: „Hochhuth übt Kritik am Verhalten der katholischen Kirche zur Zeit des 3. Reiches. Er entlarvt, dass sie sich zu den Grausamkeiten passiv verhielt. Das steigerte sich bis zu ihrer Sympathie für Hitler. Die hohen Geistlichen wurden der Verantwortung nicht gerecht, die sie als solche getragen haben“.

Natürlich beruht die Brisanz der Hochhuthschen Dichtung nicht allein auf dem Vorwurf, die Kurie habe geschwiegen und in Reglosigkeit verharrt. Die damalige Politik des Vatikans trug Züge, welche der Spruch „den Teufel mit Beelzebub austreiben“ nur sehr harmlos umschreibt. Das Schweigen des Papstes und auch der protestantischen Bischöfe, so verheerend es sich auswirkte, war noch eine lässliche Sünde dagegen, dass sie sich – eigene Machtziele verfolgend – den Nazis andienten.

Hochhuth lässt den Nuntius beteuern: Nur mit uns, mit der Kirche, nicht gegen sie, ist der Faschismus unbesiegbar. An anderer Stelle:Exzellenz, sagt Kurt Gerstein unumwunden,der Vatikan paktiert mit Hitler. Von den Lateranverträgen mit Mussolini, vom Abschluss des Konkordats zwischen dem Deutschen Reich und dem Vatikan, die dem faschistischen Regime ungeheuren Prestigegewinn bescherten und sie auf europäischem Parkett gewissermaßen hoffähig gemacht hatten, bis zum komplizenhaften Schweigen des Hauptes der katholischen Christenheit im Angesicht der totalen, hemmungslosen Menschenvernichtung zieht sich ein blutroter Faden. Schon der Vorgänger-Papst (Pius XI.) ließ Hitlers Abgesandten von Papen bei der ersten Audienz in Rom wissen, wie beglückt er sei, in Hitler eine Persönlichkeit an der Spitze der deutschen Regierung zu sehen, die den kompromisslosen Kampf gegen Kommunismus und Nihilismus auf ihre Fahnen geschrieben habe. Allerdings baute Pius XI. in den Dreißigerjahren auch Kontakte zur französischen Volksfrontregierung und zur sowjetischen Regierung aus und formulierte mit seiner Enzyklika „Mit brennender Sorge“ später sogar einen Appell, der als Protest gegen den Rassenwahn verstanden wurde. Nach seinem Tod im Februar 1939 schickte ihm die Nazis in ihrem Stammblatt „Der Völkische Beobachter“ dann auch ärgerlich nach, „unweigerlich in Konflikt mit den modernen Volksbewegungen“ geraten zu sein, wobei „Jugenderziehung und Rassegesetzgebung“ als die „Hauptsteine des Anstoßes“ galten.

Das Pontifikat von Pius XII. allerdings kennt eine solche Doppelstrategie nicht. Meine schulische Mitschrift hebt an dieser Stelle das Argument eines hohen katholischen Beamten im „Stellvertreter“ hervor: „Hitler besitzt die Macht, Europa zu schützen vor den Russen“. Noch deutlicher die Antwort auf die Frage: Warum verharren die Kirchenfürsten in Abwartung? „Hitler soll der Macht des Papstes als Bollwerk gegen den Bolschewismus dienen“. Erscheint das berüchtigte Stalin-Zitat „Wie viele Divisionen hat der Papst?“ vor diesem Hintergrund nicht in einem etwas anderen Licht?

Bekanntlich wurde von maßgeblichen Teilen beider großen christlichen Kirchen der Preis für den „Schutz vor dem Atheismus“ entrichtet. In einer späteren Schrift („Päpste und Juden“) verweist Hochhuth darauf, dass dieser „verächtlichste aller Päpste“ tatsächlich noch 1942, als die Auslöschung eines ganzen Volkes bereits in vollem Gange war, den Juden öffentlich „Schuld bis zum Gottesmord“ vorwarf: Während Hitler jedes Judenkind in Europa vom siebten Jahr an gezwungen hat, den gelben Stern zu tragen bis zu seiner Vergasung – hat das Oberhaupt der Christenheit diese Verfolgten noch als Gottesmörder verteufelt! Die Geschichte der Zivilisation kennt keine niederträchtigere Verleumdung unschuldig zum Tode Verurteilter als diesen Satz des verächtlichsten aller Päpste über die bedauernswertesten aller Menschen....

Es waren demnach nicht allein Schweigen und Passivität, die zur moralischen und politischen Katastrophe beitrugen, sondern auch Wort und Tat.